Bundeswehr

So war es  bei mir vor 61 Jahren

 Erlebte Geschichten

Mein Tagebuch über meinen bei der Bundeswehr in den Jahren 1963 und 1964 geleisteten Grundwehrdienst von 18 Monaten im Heeres- Flugabwehr- Bataillon 1 in Hannover- Langenhagen, Boelcke Kaserne

 

 

Tagebuch

1.April 1963 bis 30. September 1964

Stabsdienstsoldat Hoffmann
Stabsdienstsoldat Hoffmann

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Fw Krieger, GUA Lampe, Fahnenjunker Kahnert, Gefr Wetzel, Bäumker, Fuhl
Fw Krieger, GUA Lampe, Fahnenjunker Kahnert, Gefr Wetzel, Bäumker, Fuhl
Feldwebel Krieger - bitte melden!
Feldwebel Krieger - bitte melden!
Ceclarek, Kahnert, Kramer
Ceclarek, Kahnert, Kramer
Meuter, Wintersig
Meuter, Wintersig
Kameraden Czaika, Meißner, Wrobel, Wetzel
Kameraden Czaika, Meißner, Wrobel, Wetzel
Gefr Reinhardt, Fw Balzer, Gefr Aschemann, Wintersig, StUffz Rumpel
Gefr Reinhardt, Fw Balzer, Gefr Aschemann, Wintersig, StUffz Rumpel
Hptm Igné, Gefr Gärtner
Hptm Igné, Gefr Gärtner
Kamerad Blum,  Aschemann
Kamerad Blum, Aschemann
Kameraden Wintersig, Friseur Uffz Hoffmann, Aschemann, Hptm Igné
Kameraden Wintersig, Friseur Uffz Hoffmann, Aschemann, Hptm Igné


Jürgen Gräper, der erste Kontakt nach 48 Jahren durch diese Webseite!

 

Rolf Wintersig, der zweite Kontakt!

 


Gräper und ich, die ersten von vorne
Gräper und ich, die ersten von vorne
Kamerad Jürgen Gräper, links im Vordergrund
Kamerad Jürgen Gräper, links im Vordergrund
Cool mit Milch, Jürgen
Cool mit Milch, Jürgen

 

 2011 erster Kontakt nach 48 Jahren durch meine Homepage

Teil 1

 

Gegenstand dieses Textes ist meine Grundausbildung bei der Bundeswehr im Jahre 1963. Nach über 40 Jahren setze ich mich wieder an die "Schreibmaschine", so wie ich es damals als Rekrut und später als Stabsdienstsoldat tat, um Eindrücke und Erlebnisse in Worte zu fassen. Mit Anstand will ich nun diesen Abstand bewältigen.

 

Eigentlich wurde ich gedient. Freiwillig hätte ich jene Zeit - immerhin 18 Monate - sicherlich anders verbracht. Dann wäre mein Leben wohl auch anders verlaufen. Aber in jedem Leben werden ständig Weichen gestellt, wie auf einem Verschiebebahnhof. Meine Weiche hieß "Bundeswehr", und den Weichensteller kenne ich bis heute nicht.

 

Ich hatte noch versucht, meine Einberufung im April 1963 mittels einer gründlichen ärztlichen Untersuchung zu verhindern, weil ich mich - ehrlich gesagt - krank fühlte, wahrscheinlich auf Grund des Schreckens, den ich beim Lesen des Einberufungsbescheides erlitt. Der starke Bohnenkaffee, den ich vor meinem Gang zum Arzt zur Verschlechterung der Blutdruckwerte einnahm, ließ die medizinischen Geräte, an die ich angeschlossen wurde, jedoch nicht zu einem anderen Schluss verleiten als dem, dass ich trotz aller Beschwerden für den Dienst in der Bundeswehr noch immerhin gesund genug war. So brachte meine stümperhafte "Selbstverstümmelung" zu meiner Überraschung den stolzen Tauglichkeitsgrad 3 hervor. Damit durfte man als Rekrut ohne Übertreibung schon zufrieden sein. Nur ich war es nicht, da ich mir den schlechtesten Tauglichkeitsgrad gewünscht hatte, eben den, der meinem Unbehagen entsprach.

 

Mit dem Vertrauen auf Menschlichkeit - also Schonung erwartend - zog ich am Montag, dem 1. April 1963, aus, um das Fürchten zu lernen, das ich auf der Schulbank zwar auch, aber in - ich will nicht sagen - geistiger Form bisweilen genossen hatte. Nach dem Abitur geistig gestärkt, aber körperlich schwach, billigte mir die Bundesrepublik Deutschland Fähigkeiten zu, für die Verteidigung der Demokratie ausreichend geeignet zu sein. Eigentlich hätte ich mächtig stolz sein müssen, denn vor mir lag eine, wenn auch nicht selbstgewählte Aufgabe, über deren Sinn sich nachzudenken lohnte. "Bürger in Uniform" zu sein, das war schon was! Meine Begeisterung blieb jedoch hinter den für mich harten Fakten der Trennung vom Elternhaus, der Verschiebung meiner angestrebten Berufsausbildung und der in mich hinein projizierten Zukunftsvorstellungen weit zurück. Kurz: Ich war nicht  begeistert. Aber ich musste es als geburtenschwacher Jahrgang sein.

 

Nun, ich konnte für meine Geburt eigentlich nichts. Aber jetzt zog man mich auch noch dafür heran, dass mein Geburtsjahrgang 1942 schwach war. Was sollte ich denn noch alles ausbaden? Der Mensch lebt jedoch bisweilen davon, dass er heute nicht weiß, was ihm morgen blüht.  Also zog ich mit Unbehagen, aber dennoch gefasst - denn immerhin  war Frieden , oder besser gesagt "kalter Krieg - mit dem Nötigsten versorgt am 1. April in Richtung Bahnhof. Dichter Nebel lag über den Gleisen, und in grauer Ferne erhoben sich  verschwommene Gedanken über bundesrepublikanisches Soldatenleben.

 

Damals war von einer gesellschaftlichen Isolierung der Bundeswehr und vom Problem der "Inneren Führung" in Funk, Fernsehen und in den Zeitungen sehr oft die Rede. Dies alles betraf die junge Garnisonsstadt Hannover-Langenhagen nicht. Mit dem in der "Boelcke-Kaserne" stationierten Flugabwehr-Batallion 1 hatte der Wehrbeauftragte Heye noch keine Sorgen gehabt. Der Kommandeur des Bataillons hatte seit seinem Wirken in Evershorst bewiesen, dass es ihm um die Demokratie in der Bundesrepublik, um den "Bürger in Uniform",  genau so ernst war wie um die exakte Ausbildung. Auch bei mir wurde es nun Ernst, denn dieser Truppe, dem Fla-Batallion (Flugabwehr) 1, zunächst mal einer "Ausbildungskompanie" derselben, wurde ich als Rekrut zugeteilt. Ich durfte mich bald "Kanonier" nennen, auch ohne Kanone. Der Name "Kanonier" sollte nur meinen Willen - sozusagen als Vorschuss - bekunden, ausbildungsbereit für den Dienst an einer Flugabwehrkanone zu sein.  Bei der Wahrnehmung der ersten, noch dazu entfernten "Kanonenschläge", verlöschte bereits der erste Funke an Ausbildungsbereitschaft in mir. Aber lassen wir das. Die Bundeswehr besteht ja schließlich nicht nur aus "Kanonen". Und dies wurde bald an mir selbst deutlich genug.

 

 Aller Anfang ............

 

3. April 1963

 

Könnt ihr vielleicht verstehen, dass ich augenblicklich gar nicht viel zum Lachen habe? Morgens schnellen wir um 5.30 Uhr aus den Betten. Alles muss schnell gehen. Ich habe überhaupt keine Zeit mehr, über etwas nachzudenken. Wir haben hier noch schöne Wochen vor uns. Infantriegrundausbildung heißt mein Reizwort. Das Zivilleben ist zunächst völlig zu Ende. Mein Vater weiß, wie so etwas ist, er hat es ja selbst mitmachen müssen. Am besten, man nimmt sich hier überhaupt nichts zu Herzen. Allerdings muss ich mich erst einmal daran gewöhnen. Vor mir scheint eine unendlich lange Zeit zu liegen, die sogenannte "Dienstzeit". Ich bin manchmal ziemlich fertig. Wie schon gesagt: Geistig gerüstet, aber körperlich schwach. Mein Körper bekommt so viel zur Zeit! O, dieser Muskelkater!!

 

6. April

 

Ich freue mich, dass ihr so um mich besorgt seid und so viel an mich denkt. Zucht und Ordnung sind ganz schön, so lange sie weder Körper noch Seele angreifen. Noch nie sind mir  Tage so lang vorgekommen wie die verflossenen! Dabei geht es ab Montag erst richtig los mit Märschen - ohne Musik, versteht sich - mit theoretischem Unterricht und Sport. Zur Zeit bin ich übermüdet, da unsere Nachtruhe sehr kurz ist. Gestern sind wir vollständig eingekleidet worden. Einen Zenter Wäsche habe ich erhalten. Habe alles schön im Schrank verstaut. Nun wartet die Wäsche darauf, vom "Unteroffizier im Dienst" (UvD) wieder heraus geschmissen zu werden. Dabei habe ich alles mit Hilfe von Din A 4 - Bögen verpackt. Die Hemden dürfen auf keinen Fall breiter sein als ein Briefbogen. Auf 10 Kleiderbügeln hängen meine Anzüge, vom Kampfanzug bis zum Ausgehanzug, wobei mir der letztere lieber ist.

 

In den ersten drei Monaten schrieb ich alles mit der Hand

 

Von heute bis morgen schiebe ich Feuerwache. In der Kaserne wird den ganzen Tag gebrüllt und gepfiffen. So kann wenigstens keiner sagen, er habe akustisch etwas nicht mitbekommen. Im Moment ist es für mich schwer, meinen Humor zu bewahren. Aber vielleicht ändert sich das noch. Das Essen ist hier sehr gut. Ich bekomme kaum alles herunter, so reichlich ist es. Mir reicht`s auf jeden Fall! Unser Feldwebel ist hart und streng, soll jedoch fair sein. Unsere Gruppenführer sind junge Kerle. Manche sind nur ein Jahr älter als ich. Sie brüllen uns meist an, aber sie verstehen auch Spaß. Sie bringen mir bei, wie man Hemden faltet, Strümpfe aufrollt, Schuhe putzt, Anzüge aufhängt, Kämme reinigt und Seifendosen säubert.

 

Die erste Woche in der Kaserne verging hauptsächlich mit Formalitäten: Untersuchungen, Belehrungen und Aufklärungen, Einpauken von Marschliedern und Dienstgradabzeichen. Bei der Hauptuntersuchung im Sanitätsbereich habe ich mich viermal an- und wieder ausgezogen und wurde dann, ohne untersucht worden zu sein, wieder zurück geschickt. Die sogenannte "G-Karte" fehlte. So steht man dann eine Stunde lang im Regen und friert, trotz "Geh-Karte"! Das Schöne aber ist, man hat meistens Kameraden daneben, denen es ähnlich ergeht. Nicht jeder hat eben seine Gesundheitskarte, wenn er sie dringend benötigt. Ich fühlte mich ja schließlich auch überhaupt nicht gesund. Ach, geh` mir weg!

 

20. April

 

Drei Wochen sind nun vergangen. Mein kurzer Urlaub war wie ein Traum. Diese Woche war hier allerhand los. Wir bekamen zunächst am Dienstag unsere Gewehre. Die ersten Übungen damit und das Herumlaufern auf dem Exerzierplatz ließ ich mir ja noch gefallen, aber was dann kam, übertraf alle meine Erwartungen. Während der Infantriegefechtsausbildung am Nachmittag wurden wir mächtig gescheucht, eigentlich nicht wie Menschen - eher wie Hühner. Donnerstag lagen wir im Gelände, das heißt von langem Liegen konnte eher nicht die Rede sein. Hinschmeißen, aufstehen, springen, kriechen, immer wieder dasselbe, bis uns die Zunge aus dem Hals hing. Hinzu kam das Tragen der ABC-Schutzmaske.  Wenn irgend etwas nicht klappte, jedenfalls nach Meinung der Ausbilder, mussten wir uns wieder in den Dreck werfen, um anschließend erneut aufzustehen. Ich fand, dass es eigentlich ganz gut funktionierte, jedoch Unteroffiziere haben wohl - als Ausgebildete - in diesem Punkt manchmal andere Ansichten. So konnte auch das Übungsgelände, sumpfig und dreckig stinkend, wohl nur von Leuten ausgesucht worden sein, die ihre Sache verstanden. Aber das war nicht meine Sache. Zum Dank für unsere Anstrengungen jagte man uns nun auch noch die Bäume hoch, allerdings menschlicherweise über eine Klettervorrichtung. So erreichten wir den Baumstamm in einiger Höhe, um uns dann über einen angestellten Mast wieder nach unten zu begeben.

 

     Ich vierter von rechts

Jene Geländeübungen begannen natürlich nicht in ausgeschlafenem oder ausgeruhtem Zustand, nein, bereits von der Kaserne aus ging es im Laufschritt los bis hierher zum Gelände. Auch das Gewehr trug zu meinem Missvergnügen verstärkt bei, denn vier Kilogramm bleiben nun nicht einmal acht Pfund, wenn man es ständig dabei hat. Damit wir aber auch in der Kaserne wieder wissen, was zu tun ist, ließ man uns zum Abschluss durch tiefen Schlamm waten. Ich hatte vorher nie geglaubt, dass ich einen derart großen Schmutz dereinst wieder zum Verschwinden bringen könnte.

 

Der krönende Abschluss derartiger Reinigungsarbeiten war nicht etwa dann erreicht, wenn meine Kameraden und ich die gesäuberten Sachen unter einem letzten Stöhnen in den Spind hängten, sondern erst beim Appell. Erst beim Appell konnte jeder Soldat der Ausbildungskompanie beweisen, wie weit er es schon dienstlich gebracht hatte, zumindest auf dem Gebiet der Sauberkeit. Die Suche nach verstecktem, bisweilen nur molekular zu vermutendem Schmutz, stieß bei mir ständig auf Erfolg. Manchmal war es nur ein verirrtes Sandkörnchen, das die Stiefelsohle durch das Kitzeln eines Unteroffiziersmessers plötzlich frei gab. Ich wurde dann gefragt, ob das etwa sauber sei. Was sollte ich antworten? Ein Ja hätte zur Folge gehabt, dass beim nächsten Appell sogar noch subatomare Verunreinigungen bei mir, oder besser in meinen Sachen, aufgetaucht wären. So sagte ich also, wenn auch sehr leise, "nein". Jene Lautstärke war eigentlich schon wieder gegen den Kommiss gerichtet. Ich hätte es laut und deutlich aussprechen müssen, dann wäre ich ein ganzer Kerl gewesen, oder wenigstens so erschienen. Dies hätte mir beim nächsten Appell nur Vorteile gebracht.

 

Unsere Ausbildungsdienstgarde, ich meine unsere Ausbildungsdienstgrade, also die uns ausbildenden Unteroffiziere hatten ausnahmslos ein recht gutes Gedächtnis. So merkten sie sich z.B. über Tage und Wochen hinweg diejenigen Kanoniere, die den letzten 2000 Meter Lauf wegen vorzeitiger Erschöpfung unterbrochen hatten. Manche Schikane gegenüber meiner Person führte ich auf jenes gute Gedächtnis zurück. So sollte ich den 2000 Meter-Lauf nach Dienstschluss, wenn ich mich richtig kaputt fühlte, weiter üben. Ich tat es, wenn auch die Ergebnisse kläglich waren.

 

Was half mir mein Tauglichkeitsgrad 3?  Ich war nun mal mit vielen Kameraden zusammen, die besser waren. Ich musste mich nach dem Oben orientieren. Auch meine Fußverletzungen in den harten Stiefeln, die wohl nicht richtig passten, wurden mit einem Lächeln abgetan. Als ich sagte, ich könne in diesen Stiefeln nicht mehr laufen, weil sich dann die Wunden an den Fersen weiter aufscheuern würden, gab der Unteroffizier vom Sanitätsbereich mir als Antwort: "Sie sind Soldat, lassen Sie ruhig scheuern!" Am liebsten hätte ich ihm eine gescheuert. Krank war man wohl erst, wenn man fast schon tot war. So musste ich eben in diesen Stiefeln mir eine etwas andere Gangart zulegen. Man sah mir meine Verletzung beim Gehen natürlich an, und nicht nur im Gesicht. Nur wenn ich einem Offiziersgrad begegnete, machte ich gute Miene zum bösen Spiel, das die Bundeswehr mit meinen Füßen trieb.

 

Es wurde mir zunehmend klar: Dieses andere Leben ließ mich das, was mir vor dem Abitur eingetrichtert worden war, schnell vergessen. Es gab also doch noch ein anderes Leben, und was für eins! Man wollte einen Soldaten aus mir machen! Ich sollte mir angewöhnen, "auf die Zähne zu beißen". Auf was hatte ich früher eigentlich gebissen? Ich sollte Unschönes und eine Menge Derbes zu hören bekommen. Ich würde ein gerüttelt Maß über Weiber und über das Saufen aus dem Munde meiner Kameraden erfahren. Nach diesen drei Wochen kann ich wirklich darauf gespannt sein, was mich hier noch alles erwartet.

 

28. April

 

Das Essen war in der vergangenen Woche so schlecht wie noch nie hier oben.  Obwohl wir uns zwei volle Tage im Gelände aufhielten, bekamen wir mittags nur Eintopfsuppe. Immer wieder das gleiche Brot setzt man uns vor, ein seltsames Trockenbrot, das ich nicht mag. Wir nennen es "Hundekuchen". Es ist zwar genug da, um satt zu werden, aber manchmal ist man schon satt, ohne genug gegessen zu haben. Allerdings gibt es auch Ausnahmen: Wir bekommen abends eine Büchse Blutwurst. Aber wer kann so viel Blutwurst auf einmal vertragen? So träume ich von mehreren kleinen Dosen mit unterschiedlichen Wurstsorten, aber nicht nur davon.

 

In der vierten Woche waren wiederum die Tage im Gelände die anstrengendsten. Morgens um 7.30 Uhr erfolgte der Gepäckmarsch zur Heeresoffiziersschule. Dort machten wir Schießübungen mit dem G3-Gewehr. Für manchen waren es "Scheiß Übungen". Anschließend marschierten wir weiter zum "Silbersee" durchs Gelände. Nach ausgiebiger Geländekunde errichteten wir abends unsere Biwaks.

 

Wie ihr euch denken könnt, hatte ich mir bereits schon auf dem Hinmarsch wieder die Füße kaputt gelaufen, die bislang ja auch noch nie eine Gelegenheit hatten zu heilen. Eine kleine Erleichterung für mich war, dass ich auf dem Zeltplatz bis 23 Uhr Wache schieben durfte, da ich die Nachtübung wegen der Fußanomalien nicht mitzumachen brauchte. Dieser Hauch von Menschlichkeit erfuhr eine ungeahnte Steigerung, als ich am nächsten Tag vom strapaziösen Rückmarsch befreit wurde. Inzwischen geht es meinen Füßen besser und ich bin bald wieder einsatzfähig, wenn auch weniger einsatzbereit. 

 

Wir waren in den vergangenen Tagen oft auf dem Exerzierplatz. Antrete-, Richt-, Schwenk- und Wendeübungen standen auf dem Programm. Die Wendeübungen waren für mich am interessantesten, jedoch merkte ich sehr bald, dass für mich die große Wende nicht eintrat. Ich hätte Wände eintreten können: Die Kaserne hielt mich fest. Man konnte mich gebrauchen.  Inzwischen erinnerte ich mich häufiger daran, wofür ich dies alles tat.

 

Samstags stand bei uns unter anderem "Politische Information" auf dem Dienstplan. In dieser Unterrichtsstunde müssen die Vertreter der einzelnen Gruppen über die wichtigsten politischen Ereignisse der Woche referieren. Da für diese Aufgabe vornehmlich Abiturienten heran gezogen wurden, sah ich mich schon einige Tage vorher am Rednerpult stehen. So kam es dann auch. Zum ersten Mal fiel ich angenehm auf, als ich über die grundsätzliche Bedeutung der Gewerkschaften in einer parlamentarischen Demokratie sprach. Eigentlich hatte ich mir alles aus den Fingern gesogen: ein bisschen Geschichte, ein bisschen Abitur, ein wenig Staatsbürgerkunde. Denn wer hatte in diesen anstrengenden Wochen Zeit, eine Zeitung zu lesen.

 

Wenn man Zeit hatte, wurde geschlafen. Aus Interesse informierte ich mich aber hinterher doch noch darüber, was in der vergangenen Woche geschehen war, in der Politik. Daraufhin stellte ich fest, dass mein Vortrag schlecht gewesen war. Mit einem schlechten Vortrag angenehm aufzufallen - jene Möglichkeit bestand hier offensichtlich.

 

Wir hatten wenig Zeit, die uns zur eigenen Verfügung stand. Die Gewehrappelle waren furchtbar streng. Das Gewehr ist ja bekanntlich die "Braut" des Soldaten. Das Schlimmste für mich war, dass ich diese Verlobung nicht lösen konnte. Ich musste die widerwärtigen Nachappelle über mich ergehen lassen, bis meine "Braut" völlig makellos war. Mein Gewehr hätte ich nun heiraten dürfen.  

 

Die Abende vergingen mit Saubermachen, Putzen, Flicken und Nähen. Etwas Auflockerung brachte in dieser Woche die sogenannte "Grußabnahme". Der Soldat muss zeigen, dass er seine Vorgesetzten richtig zu grüßen vermag. Hat er dies gelernt, wird ihm der Gruß abgenommen. Ist ihm der Gruß abgenommen, kann und muss er grüßen. Er legt dazu seine rechte Hand in einer bestimmten Weise an den Kopf, was der andere erwidert. Nach dem Gruß wird normal weiter gegangen.  Ich glaube, dass ich inzwischen etwas abgestumpft bin und mich mit manchen Dingen schon leichter abfinde als am Anfang.  Meine liebste Uniform, die Ausgehuniform, darf ich nun tragen. Ich kann nämlich grüßen.

 

30. April

 

Die körperlichen Anstrengungen hielten sich gestern in Grenzen. Es standen nur theoretischer Unterricht und Formalausbildung auf dem Dienstplan. Heute Nachmittag war hier allerlei los. Es fing an mit dem Appell des Ausgehanzuges, der beiden Mäntel und der Mütze. Diese Sachen sind ja sowieso immer relativ sauber. Nach diesem problemlosen Einstieg hieß es: In fünf Minuten im Arbeitsanzug antreten! Anschließend erfolgte ein überraschender Marsch ins Gelände mit Sturmgepäck, Gewehr und Gasmaske. Das Wort "Gasmaske" ist eigentlich nicht ganz richtig. "ABC-Schutzmaske" muss es heißen.

 

Jene Maske ist nicht etwa für Analphabeten bestimmt, sondern soll vor atomaren, biologischen und chemischen Waffen, bzw. deren Auswirkungen auf die Atemwege, schützen. Mit dem Schrei "Gas!" unseres Feldwebels wussten alle, was zu tun war: die Maske aufsetzen, um weiter atmen zu können. Doch dieses Luftholen war trotzdem, vor allem im Laufschritt, mit vollem Sturmgepäck, sehr qualvoll. Ein kleines Kieselsteinchen fand sich immer im Gelände, um es zwischen Hals und Maskenrand zu klemmen. Das verschaffte Frischluft. Natürlich nur zu Friedenszeiten, im Krieg wäre das tödlich ausgegangen. Aber bis dahin hatten wir ja noch Zeit und ich freue mich, dass sich bis heute bei uns in Deutschland daran nichts geändert hat, sowohl am Frieden als auch am Trick mit dem Kieselstein.

 

Der Aufenthalt im Gelände steigerte sich an diesem Tag zu meinem vollsten Vergnügen. Was für einen Kerl hatten sie doch schon in wenigen Wochen aus mir gemacht! Dieses ständige Laufen mit meiner schweren Ausrüstung, Berge hoch und runter, durch dicken Schlamm, dass es an den Stiefeln nur so "quackte" und "zwitschte". Ich vollzog das alles ohne zu murren. Als es mal wieder hieß "Hinlegen!", warf ich mich anstatt auf den einigermaßen trockenen Weg in eine ausgedehnte Pfütze daneben. Darauf bemerkte der ausbildende Unteroffizier halblaut, aber vernehmlich: "Gut, Hoffmann, sehr gut!" Ich war also "sehr gut", und das im Geländedienst! Wenn ich nicht auf dem Boden gelegen hätte, wer weiß, wie stramm ich vor mir selbst gestanden wäre.

 

    Von l.: Textores, Bäumker, Wetzel, Kramer, Gräper 

 

Nun drangen wir immer tiefer ins Gelände ein. Man musste kein Meteorologe sein um festzustellen, dass es in dieser Gegend vor kurzem mächtig geregnet hatte. Aber der matschige Boden nahm uns willig auf und federte unser Gewicht ab. Das mussten wir allerdings mit einem etwas bräunlichen, teils schwärzlichen Aussehen bezahlen. Deshalb verstand ich anfangs nicht, warum wir uns noch schwärzer machen sollten. Das Gesicht nämlich, unser wertvollster Körperteil, hatte am wenigsten von dem Dreck abbekommen. Es leuchtete geradezu aus einer dunklen Gestalt hervor. Für den Feind, vor allem von vorne, wäre das eine gute Zielscheibe gewesen.  Deshalb verbrannten wir Papier,  spuckten in die Hände und zerrieben die Asche zu einem schwarzen Brei, den wir auf die Gesichtshaut auftrugen. "Tarnung" nennt man das, und der Feind hätte jetzt kommen können. Wir wären nicht mehr gesehen worden, weder von vorne noch von hinten.

 

Das Kriechen über die Erde diente demselben Zweck. Es wurde mir sehr schnell bewusst, dass wir "Krieg" spielten. Wir ergaben uns den Kommandos "Auf! Hinlegen! Deckung! Auf!" Wir fertigten Skizzen an und machten Meldung. Einmal sagte ich an Stelle von "melden" "Bescheid sagen". Darauf erhielt ich die Antwort des erbosten Vorgesetzten: "Einer alten Frau können sie Bescheid sagen, mir wird Meldung gemacht!" Na ja, wir waren schließlich nicht im Zivilbereich. Hier gab es auch keine alten Frauen, noch nicht einmal junge. Ich fügte mich und machte künftig nur noch "Meldungen"!

 

Das Spiel ging weiter. Ich sagte mir, wenn Krieg so anstrengend ist, gehe ich bestimmt erst gar nicht hin. Anschleichen! Schießen! Aufspringen! Deckung! Ein toller Truppenübungsplatz! Hinauf auf die Trümmer, springen aus 2 bis 3 Meter Höhe in voller Ausrüstung. Das entspricht einem Aufprall im Auto bei etwa 15 Stundenkilometern auf eine Wand.

 

Wir konnten uns nicht anschnallen, und auch die Aufprallrichtung war anders als im Zivilleben. Wir kamen zum Glück von oben und wussten, dass wir mit den Füßen aufkamen. Es tat jedoch einen gewaltigen Ruck. Da schnallst du ab. Wir waren offensichtlich mitten im Programm. Jetzt, Springen über einen Wassergraben. Danach wieder im Laufschritt durch dicken Schlamm, das Gewehr in "Pirschhaltung"! "Gaaas!" ertönte es. Die ABC-Schutzmasken auf! Wer wollte schon chemisch oder biologisch verseucht werden. Auf, die Maske, logisch!

 

Unser tägliches Leben als Kanoniere war angefüllt mit Schlagzeilen. Die Situationen, die zu gewissen Standardsätzen passten, variierten bisweilen leicht, die Ausrufe unserer Ausbilder blieben aber durchweg dieselben: "Hoffentlich sind Sie bald oben!"  "Sie haben Sportzeug an und gehen"? "Zurück in die Stuben!"  "Rührt euch, ein Lied!"  "In Marschordnung, Abteilung -  Halt!"  "Das hört sich ja an, als wenn eine Ziege aufs Trommelfell scheißt!"  "Rottenweise rechts einrücken!"  "Fertigmachen zum Unterricht mit Stühlen!"

 

Diesen Stuhlgang hatten wir häufig.  "Aaachtung! Stube 50, belegt mit vier Mann, zwei Mann in den Betten, ein Mann im Sanitätsbereich, Stube gereinigt und durchlüftet, Stubendienst Kanonier Hoffmann!"  "Rühren Sie durch!" "Haben Sie Staub geputzt? Sehen Sie mal hier! Sehen Sie mich noch?"  (Er bläst vor seinen gestreckten Zeigefinger der rechten Hand.)  "Richt euch!" "Rechtswendungen nach Zeiten: eins, zwei, eins, zwei, eins, zwei (bis drei kamen wir nie!)" "Abteilung - kehrt!" Ich hielt nach einem Besen Ausschau. "Augen -rechts!  Die Augen - links!" Bei "links" hieß es immer "die" Augen, auf jeden Fall waren es meine Augen. "Zweiter Zug - still gestanden!"

 

Laut war es vorher gar nicht gewesen. "Zweiter Zug - rührt euch!"  Ich fand das rührend!  "Zur Meldung an den Hauptfeldwebel - die Augen - links!!" Wir standen also rechts vom Hauptfeldwebel, schloss ich daraus. Heute weiß ich, dass ich mich irrte. Der Hauptfeldwebel stand ja mit dem Gesicht zu uns. Nur so konnte er uns sehen. "Morgen Kompanie!" "Morgen, Herr Hauptfeld!"  "Hauptfeld" ist die Abkürzung von "Hauptfeldwebel" (das fällt mir gerade ein.)  "Ausbildungskompanie -  rührt euch!"

 

Schon wieder! Nachdem wir alle sehr gerührt waren, nahmen wir die Befehle für den Tag entgegen. Viele davon kannte ich bereits, aber ich war froh, dass ich es noch einmal gesagt bekam. Beim Kommiss ist nämlich nichts so schlimm wie ein Missverständnis. Auch die militärische Sprache hat sicherlich ihre Vorteile. Während Ludwig Uhland in einem seiner Gedicht nieder schrieb: "Nun muss sich alles, alles wenden!" heißt es bei uns einfach "Kehrt!"

 

4. Mai

 

Um 3.50 Uhr standen wir alle draußen. Anschließend gruppenweiser Abmarsch ins Gelände. Marsch mit Kompass und Kohldampf, auch "Orientierungsmarsch" genannt. Endlich um 7.30 Uhr erreichten wir alleine (ohne Gruppenführer, denn wir waren auf uns selbst gestellt) unser Ziel, den Schießstand der HOS (Heeresoffiziersschule). Hier frühstückten wir. Anschließend begann unser Schießunterricht, und zwar die erste und zweite Grundübung.

 

Die Schießerei - militärisch "das Schießen") - dauerte sehr lange. Bis unsere Gruppe wieder an der Reihe war, vergingen Stunden. So gammelten wir herum und froren fürchterlich. Hier oben in der Ebene pfeift nicht nur der Gruppenführer, sondern auch der Wind. Ich hatte von Anfang an erneut Angst um meine Füße, doch meine Fersen blieben diesmal heil. Dafür bekam ich aber neue Blasen.

 

Es scheint eben nicht ohne Fußbeschwerden zu gehen. Übrigens, während des Marsches spielten sich rührende Szenen ab. Wir halfen uns oft gegenseitig, indem wir uns zum Beispiel aneinander klammerten, oder indem Kameraden mit besserer Kondition zwei oder drei Gewehre trugen. Im Ernstfall hätten sie natürlich nur mit einem Gewehr schießen können, aber sie drückten mit dieser Geste aus, dass sie ihre erschöpften Kameraden entlasten wollten, damit diese im Ernstfall wenigstens noch selber schießen konnten. So kamen wir als vierte Gruppe in der HOS an.

 

Die Gruppen, die vor uns eingetroffen waren, wurden für ihre Schnelligkeit belohnt. Der erste Sieger wurde zurückgefahren (der hatte das doch am wenigsten nötig), der zweite Sieger brauchte nur die halbe Strecke zu laufen. Die Schießübung, manchmal fiel wieder das Wort "Scheiß Übung", dauerte bis etwa 15 Uhr.  Ich erfüllte, trotz aller Anstrengungen, die gestellten Bedingungen nicht. Ich sollte nämlich drei Figuren treffen, traf aber nur eine. Im Ernstfall wäre wohl ich eine der beiden fehlenden Figuren gewesen, die jedoch dann - und zwar vom Feind - getroffen worden wären. Aber darüber machte ich mir im Frieden keine Gedanken. Außerdem war ich in der Ausbildung. Ich war ja zur Bundeswehr gekommen, nicht um etwas zu können, sondern um etwas zu lernen.

 

Um 15.30 Uhr traten wir endlich den Rückmarsch an. Unser Feldwebel steckte mich ganz nach vorne an die Spitze des Zuges. Offenbar hatte er Angst, ich könnte hinten verloren gehen. So hielt ich mit äußerster Kraftanstrengung zunächst einmal durch. Man machte mich zum Ersten. Die anderen trauten mir mehr zu als ich mir selbst. Dennoch trug zeitweise - menschlich fein - mein Gruppenführer mein Gewehr, also nicht ich, was mir besser gestanden hätte.

 

Ich nahm diesen Zacken, der aus meiner Krone gebrochen war, nur aus Erschöpfung gelassen hin. Mein Feldwebel, der alles von Anfang an mit angeschaut hatte, überreichte mir einen Apfel. So wurde es mir möglich, auch noch die letzten Reserven aus meinem immer sportlicher werdenden Körper heraus zu holen. Von diesem Augenblick war mir mein Feldwebel, obwohl er auch noch "Krieger" hieß, trotz aller Schinderei, die mit der Grundausbildung zu tun hatte, sympathisch. Härte muss auch hin und wieder der Menschlichkeit weichen können. 

 

Längst, nachdem der köstliche Apfel verspeist war, kamen wir, in Schweiß gebadet, am Kasernentor an. Ein Dauerlauf über die letzten 300 Meter bis zum Block bildete den Abschluss. Danach war ich aber nun restlos fertig. Auch ein weiterer Apfel hätte mich nicht mehr aufmuntern können. Ich war derart müde, dass ich noch nicht einmal spürte, wie stark ich fror. Das Ende des ersten großen Alarms, auf den ich schon immer gewartet hatte, war Schlaf, ein so tiefer, dass ich ihn fast schon als todesähnlich bezeichnen möchte. Ein Neunzehnstundentag lag hinter mir und ich lag mit ihm. Keine Gewerkschaft, die meine Interessen vertrat! Das Erwachen am nächsten Morgen war schrecklich. Ich fühlte mich so müde und zerschlagen, als hätte ich mehrere arbeitsreiche Tage bereits wieder hinter mir. Dabei stand neue Arbeit, meist körperliche, erneut bevor.

8. Mai

 

Die Hälfte dieser Woche ist schon wieder um. Ehrlich gesagt, die Zeit vergeht schnell, obwohl hier manche harte Stunde zu bewältigen ist, in der man meint, die Zeit stünde still. Wir waren fast jeden Tag für drei bis vier Stunden im Gelände. Spähtruppformation, Kriechen, Deckung nehmen, Stellung, auf den Wall und Stellung, herunter rollen lassen, das Gewehr in Pirschhaltung, auf dem Bauch liegen... . Wir sahen aus wie die Schweine. Es zeigte sich jetzt schon, dass die Strapazen in der zweiten Hälfte der Grundausbildung zunehmen. Ein 45-Kilometer-Marsch wird dann das Ende dieser Zeit krönen.

 

Die Märsche (noch immer ohne Blasmusik) werden jeden Tag ein Stück länger. Am kommenden Freitag machen wir den bisher größten Marsch. Der Rückmarsch findet in der Nacht zu Samstag statt. Wir werden nur mit einem Kompass ausgerüstet sein, den Rest müssen wir allein bewältigen. Satellitennavigation gab es damals nicht. Wenn wir uns verlaufen, wird es nur am Kompass liegen. Wer hätte noch nie von der sogenannten "Missweisung" gehört? Natürlich wird man uns Soldaten die Schuld geben. Wir können (oder konnten) ja denken, der Kompass hingegen nicht. Wenn ich die allmählich aufblühende Natur betrachte, denke ich oft an zu Hause, an unseren großen Garten. Auch hier wird es, trotz allem, allmählich grün, sogar im Bereich der Kaserne.

 

 

In der Tretmühle

 

12. Mai

 

Gestern erhielt ich euren Brief, gerade als ich vom Nacht-Orientierungsmarsch zurück kam. Ich las ihn sofort und verrichtete dann weiter meine Aufräumungsarbeiten. Wir mussten nämlich noch unsere Stuben säubern und für den "Stubendurchgang" alles in Ordnung bringen. Außerdem hatten wir noch Gewehrappell, der jedoch auf Grund unserer körperlichen Verfassung nicht so streng wie üblich war. Nach 10 Uhr konnten wir endlich von Dienstschluss sprechen. Wir waren ohne Pause von Freitagmorgen 5.30 Uhr bis Samstag 10.00 Uhr auf den Beinen gewesen. Dazu kam der Nachtmarsch von 0.45 bis 5.30 Uhr als größte körperliche Leistung. Es reizt mich, jenen 29stündigen Dienst etwas näher zu erläutern.

 

Freitag 5.30 Uhr war Wecken, danach Frühstück, anschließend Befehlsausgabe.  Um 7.30 Uhr standen wir zum Abmarsch bereit. Es hatte die ganze Nacht über in Strömen geregnet. Es fing erneut an, als wir in voller Ausrüstung loszogen. Wir marschierten nach Resse zu einem modernen Schießstand, einer gewaltigen Anlage für Gewehr- und Maschinengewehrschießübungen. Es regnete noch den ganzen Morgen. Die Waldwege waren völlig aufgeweicht. Wir waren "dick" angezogen, um zu verhindern, dass der Regen bis auf die Haut durchdringt.

 

Als wir in Resse angekommen waren, hatte das Gewicht unserer Kleidung durch den aufgesogenen Regen schon erheblich zugenommen. Nun begannen wir mit den Schießübungen. Man setzte mich ans Telefon, damit ich die Ergebnisse, die mir aus der Deckung übermittelt wurden, dem Schreiber diktieren konnte. So saß ich nun den ganzen Morgen im Regen und telefonierte lustig drauflos, bis die gesamte Kompanie durchgeschossen hatte. Meine Hose hing nass an den Beinen (wo sonst?). Jedoch war es erstaunlich, wieviel Wasser die Klamotten aufsaugen können. So drang der Regen nicht einmal bis auf den Rücken durch. Innen war ich noch nass geschwitzt vom Marschieren und außen nass vom Regen. Ein tolles Gefühl. Ich atmete erleichtert auf, als der Regen mittags aufhörte.

 

Die Schießübungen zogen sich über den ganzen Tag hin. Nachmittags steckte man mich erneut ans Telefon. Ich selbst habe übrigens nicht nur telefoniert, sondern auch geschossen, und zwar recht gut! Auf 250 m Entfernung mit drei Schuss traf ich beim ersten Mal die Fünf hoch links, beim zweiten Mal die Zehn (in die Vollen), und beim dritten Mal wieder die Zehn. Das war aus dieser Entfernung erstaunlich und außerdem mit 25 die Gruppenbestleistung. Der Feind hätte keine Freude an mir gehabt. So verging der Tag mit Schießen. Zum Schluss wurde auch noch die erste Vorübung mit dem MG absolviert.

 

Nach dem Abendessen, das wir im Freien zu uns nahmen, wechselte das Programm. Nach einer Pause begann das Nachtschießen. Hierbei erzielte ich keine Treffer, weil ich das Ziel überhaupt nicht sah. Was ich sah, war die Nacht, aber die sah sowieso jeder, auch ohne zu schießen. Irgendwie fand ich das beschissen. In die Dunkelheit hinein ballern kann wohl jeder. Und das nach den Schießerfolgen am Tage. Aber Frust kommt gleich hinter dem Kommissbrot. Nicht, dass ich mich schlecht fühlte, nur eben wieder mal müde. Es war ja auch inzwischen bereits 23 Uhr. Da hat man ein Recht darauf, müde zu sein. Nur stand uns jetzt der Rückmarsch bevor. Zu diesem machten wir uns bereit und versammelten uns vor der Schießanlage.

 

Der Zug ging gruppenweise los, immer in bestimmten Abständen. Um 0.45 Uhr war unsere Gruppe (wohl nicht die beste) an der Reihe. Wir zogen los, von Posten zu Posten. Einmal hatten wir uns verlaufen und wanderten zurück. So irrten wir durch die Nacht. Wir waren noch immer unterwegs, als der Tag anbrach. Drei Posten waren noch anzulaufen. Der glutrote Ball der Sonne schien wie ein überdimensionaler Wegweiser den Horizont mit Feuer zu überziehen. Wir jedoch überzogen unsere Zeit. Wo waren die restlichen drei Posten? Zwei hätten ja schon genügt. Warum so großzügig?

 

Unser Zug war wirklich groß. Wir konnten deshalb nicht alle zugleich die besten sein. Aber ich fand den Gedanken nicht gerade abwegig, auch einmal zu den Besten zu gehören. Doch erneut kamen wir vom Wege ab. Leider! Ich sah mich um und erblickte die Morgensonne in gelblichem Rot. Sie würde jetzt auch über meinem Zuhause stehen. Dort, wo ich aufgewachsen bin, würde ihr Schein mein Zimmer erhellen. Doch ihre Strahlen trafen mich hier, im Gelände. Auch die Posten, die wir suchten, konnten die ersten wärmenden Sonnenstrahlen genießen. Aber wahrscheinlich waren sie sauer, weil wir noch immer nicht eingetroffen waren. Was konnte die Sonne dafür?

 

Endlich, gegen 5.30 Uhr, erreichten wir - fast alle vollkommen, und zwar fertig, die Kaserne. Hier begann natürlich - der Dienst. Nach dem Frühstück mussten wir unsere Sachen verstauen und säubern, säubern natürlich vorher. Menschlicherweise war nun bereits nach 10 Uhr Dienstschluss. Das Mittagsessen möchte ich nur als eine kurze Schlafunterbrechung bezeichnen. Um 20 Uhr wurde ich wach. Nach dem Abendessen schlief ich weiter bis 7 Uhr früh.

 

21. Mai

 

Die achte Ausbildungswoche brachte in den ersten Tagen nichts Besonderes. Zu erwähnen wäre vielleicht, dass wir gestern Abend einen Theaterbesuch hinter uns brachten, und zwar Shakespeares "Maß für Maß". In den Kantinen hatten wir übrigens schon öfters "Maß für Maß" genossen, auch ohne Shakespeare. Es war auch kein "Shakes-Bier", sondern eine andere Marke. Theater ist aber eine hervorragende Abwechslung im Leben eines Soldaten. Man sieht einmal wieder die Bretter, die die Welt bedeuten, nachdem man lange Zeit mit manchem Brett vor dem Kopf herum gelaufen ist. Man wird endlich zur Ruhe gezwungen - doch dann meldet sich sogleich die Müdigkeit. Sie verhindert, dass man viel  zur Kaserne an geistiger Bereicherung mitnimmt.

 

Um 23.45 Uhr - meine Uhr war immer dabei, im Gegensatz zu mir - erreichten wir die Kaserne, diesmal nicht mit Mühe und Not. Der Schlaf war trotz Theater - eigentlich hätte es ja jeden von uns weiter beschäftigen müssen, was Shakespeare uns Soldaten sagen wollte - dennoch sehr erquickend. Trotzdem fiel uns das Aufstehen am nächsten Morgen sehr schwer. Die Theatervorstellung war nicht verarbeitet. Grausam war es zu wissen, dass es bis 22 Uhr kein Zurück ins Bett mehr gab. Shakespeare konnte das damals nicht wissen. Vielleicht hätte er für uns Soldaten ein anderes Stück geschrieben.  Nun denn, die Zeit vergeht mehr und mehr wie im Fluge, obwohl hier niemand bei der Luftwaffe ist. Die achte Ausbildungswoche ist bereits zu einem Drittel um. Es fehlen also noch - zwei Drittel. Ich erinnerte mich an meine Schulbildung.

 

Ich habe Urlaub beantragt. Hoffentlich lässt man mich! Der Urlaub, oder besser: das Urlaubsbegehren, wird ständig als Mittel zum Zweck eingesetzt. Der Zweck heiligt ja bekanntlich die Mittel. Die Mittel heißen: alles zu tun, um nur ja nicht negativ aufzufallen. Da lässt man sich halt etwas einfallen. Wir sind ja nicht auf den Kopf gefallen. Wir kennen inzwischen auch schon ein paar Schwächen der Starken. Ich hoffe also, dass es mit dem Urlaub klappt. Grüßt euren Schäferhund von mir und sagt ihm, dass auch ich gelegentlich "Hundekuchen" zu essen bekomme. Solidarität im Soldatenleben, auf wen oder was sie sich auch richtet. "Richt euch!"

 

8. Juni

 

Inzwischen liegt die 10. Woche hinter mir. Ich habe den Eindruck, dass wir nun bis zum Ende der Grundausbildung noch tüchtig "geschliffen" werden sollen. Wahrscheinlich handelt es sich um die letzten "Feinarbeiten". So waren in dieser Woche einige harte Arbeiten zu bewältigen. Drückende Schwüle und eine mörderische Hitze kamen hinzu. Wir schwitzten deshalb sehr viel und tranken zum Ausgleich.

 

Der Dienstplan für die nächste Woche ist nicht von Pappe. Ich erwähne nur den Begriff "Nördlich Unterkunft" und glaube, damit ist genug gesagt. Nach etwa zwei Wochen wird jedenfalls der erste Spuk vorüber sein, danach fängt mit Sicherheit der zweite an. Ich komme voraussichtlich zur 3. Batterie in die Schreibstube. Wieso? Nach meinen Erkundigungen wird dort ein Stabsdienstsoldat entlassen. Ich werde an seine Stelle treten. Die Schreibstubenbesatzung kann sich sogar eines eigenen Zimmers erfreuen. Ich werde an dieser Freude bald Teil haben!? Ich bin übrigens der einzige unseres Zuges, der zur 3. Batterie kommt. Ich ließ mir erzählen, dass der Schreibstubenfeldwebel in Ordnung ist, ebenso der Unteroffizier und seine Gefreiten. Das "Haar in der Suppe" soll jedoch der Spieß sein, der in seiner Eigenschaft als Hauptfeldwebel oder "Mutter der Kompanie" herum brüllt und die Leute "anscheißt". Welch ein fürchterliches Wort! Aber vorsichtig, dies sind nur Stimmen aus dem Volk. Die Wirklichkeit könnte etwas anders aussehen.

 

Unsere jetzige Stubengemeinschaft wird auf jeden Fall aufgelöst. Dirk wird zur 5. Batterie versetzt (Versorgung), Hartmut wird ein Nachschubsoldat, wahrscheinlich Kradmelder, und Klaus wird nach Braunschweig versetzt. So wird hier jede Stube in alle Winkel verstreut. Was wird, wird still. Aber jene Stille ist hier immer noch eine Seltenheit. Mein Wunsch ist es jetzt, dass ich bei der 3. Batterie (L 60 Geschütze und Raupenfahrzeuge, die oft fälschlicherweise als Panzer bezeichnet werden) einen guten Posten bekomme, wo ich mehr schriftlich, eventuell sogar geistig, als körperlich arbeiten muss, dass ich dort neue und ebenso anständige Kameraden finde wie zur Zeit meiner Grundausbildung und dass ich mich an den unangenehmen Spieß gewöhne, bzw. er an mich - was unwahrscheinlicher ist. Man ist schon so viel gewohnt, dass man sich kaum noch vor etwas bange macht.

 

Wer weiß, was diejenigen Kameraden erwartet, von denen man sagt, sie hätten es "gut getroffen". Wer weiß, was die Abiturienten erwartet, die sich für 2 Jahre verpflichtet haben und die, obwohl sich viele kaum dazu eignen, ihren Reserveoffiziersanwärter (ROA) machen wollen? Man hat uns versichert, dass die Abiturienten dieses Lehrgangs schlechter sind als die meisten Leute ohne Abitur, wohingegen es sonst umgekehrt gewesen sein soll. Die meisten verpflichten sich nur wegen des Geldes auf zwei Jahre oder länger. Vor dieser Einstellung ist aber zu warnen.

 

Ich könnte es hier in 18 Monaten zum "Fähnrich der Reserve" bringen (Feldwebel in Offizierslaufbahn). Jedoch eigne ich mich nicht dazu. Die Fahnenjunker- und Fähnrichlehrgänge sind nämlich besonders hart. Ich sehe es doch jeden Tag an unserem Gruppenführer, Fahnenjunker K., was der alles mitmachen muss: Leute anschreien, immer mit hinaus ins Gelände... . Er macht zwar nicht den gleichen Dreck mit wie wir, aber er muss immer dabei sein und trägt die ganze Verantwortung für eine  Gruppe. Außerdem muss er sportlich auf der Höhe sein. Stellt euch vor, ich sollte mit einer Gruppe 5000-Meter-Läufe, Waldläufe, Gymnastik und Spiele machen, und ich selbst könnte kaum durchhalten. Ich würde dann die Grundausbildung noch mehrere Male mitmachen, wenn auch nicht als Kanonier, schon gar nicht als "Kanone"!  Und was, wenn ich die Lehrgänge nicht bestehe? Dann bleibe ich vielleicht die gesamte Zeit "Hilfsausbilder".

 

Man hat uns auch zu verstehen gegeben, dass das Abitur zwar hilft, schneller voran zu kommen, dass es jedoch kein "Freifahrtsschein"  ist. Zum "Nulltarif" wird hier niemand etwas, erst recht nicht eine "Null". Ach, hätte ich doch mehr Ehrgeiz! Wer weiß, was ich dann für  Pläne hätte. Aber so bin ich weiterhin W 18 und erhalte am Ende dieser Zeit 280 DM. Außerdem steigt der Wehrsold nach 6 Monaten, falls ich Gefreiter werde, auf ungefähr 80 DM. Ja, nach 10 Wochen stelle ich bezüglich meiner Dienstauffassung wenig an Veränderungen bei mir fest. Aber warum überhaupt so kritisch?  Ich hoffe, dass es nach der Grundausbildung einen kurzen Urlaub gibt! Ein langer wäre mir lieber!

 

Kanonier Klaus, 8. Juni 1963

 

 

 

Teil 2
Es ist nun schon über eine Woche her, dass mir im geliebten Gelände "Nördlich Unterkunft" etwas zustieß, von dem ich euch bislang noch nichts erzählt habe. Ich hatte mir es so zu sagen selbst "zustoßen lassen". Dies hört sich sehr geheimnisvoll an, vor allem für Außenstehende. Außenstehende waren alle, außer mir:  meine Kameraden Hartmut, Dirk und Klaus, aber auch Fahnenjunker Kahnert, ebenfalls ein gestandener Dienstgrad aus dem Sanitätsbereich und zum Schluss ein ziviler Facharzt. Aber fangen wir vorne an.
 
Früh am Morgen marschierten wir in voller Ausrüstung los ins "geliebte" Land. Der Himmel war wolkenverhangen, aber es regnete nicht. Ein kühler Wind wirkte sich erleichternd aus. Nach etwa einer halben Stunde konnte ich endlich, voller Erwartung, mit ebenso vollem Sturmgepäck, obwohl es nur windig war, den Freiraum der mich umgebenden Natur in mich aufsaugen. Der Horizont wurde bisweilen von Wolkenlücken erhellt. Ich verglich diese mit eigenen Zukunftsgefühlen. Auch mir war so, als zeichneten sich im Vordergrund meines Lebens einige hellen Stellen ab, und das war ja auf Grund der schon weit voran geschrittenen Grundausbildung gar nicht so abwegig. Ich genoss also diese Landschaft, die sich mir ziemlich eintönig, von kargem Bewuchs, vorwiegend mit anspruchslosem Nadelholz, nämlich Kiefern überzogen, darbot. Das fahle Licht einer Sonne, die den späten Frühling noch immer nicht frei geben will, überzog die Gesichter meiner Kameraden, wahrscheinlich auch meins. Ich vermutete, dass wir alle ähnliche Gedanken hegten, wie etwa: Wir werden alles schon hinter uns bringen, in drei Wochen sehen wir weiter, jedoch wir leider uns nicht mehr. Jeder spürte, dass es so kommen würde. Dies war eben unsere Zeit, bemessen in Raum und Zeit, ein Raum-Zeit-Kontinuum, in dem wir kontinuierlich unseren Dienst leisteten.
 
In dem Augenblick, als wir am Rande einer ehemaligen Kiefernschonung Halt machten, riss der Himmel auf und wir durften unser Sturmgepäck abschnallen. Da ich nicht an eine Pause gedacht hatte, war ich auch nicht vom Ausbleiben derselben enttäuscht. Wir erwarteten nämlich westlich der Nördlichen Unterkunft bereits jetzt den "Feind". Das Kieferngehölz mit seinem toten Geflecht bot uns Schutz beim Gefecht, das zu erwarten war. So ergriffen wir erneut das Gewehr und nahmen die schon mehrmals erwähnte "Pirschhaltung" ein. Bisweilen glaubte ich, der Feind wäre im Bereich des Dam- oder Rotwildes zu suchen. Echte Verteidigung hätten wir wahrscheinlich nur bei der Annäherung von Schwarzwild leisten müssen. Der Name des "Feindes" war mir allerdings in den vergangenen Wochen mehrmals in der Theorie eingetrichtert worden: "Imaginär!" Im Anblick unserer Truppe - so kann ich mir vorstellen - wäre er sicher um sein "Image" besorgt gewesen. Trotz dieser seiner Sorge um sich selbst war mir der imaginäre Feind immer noch der liebste, bis heute! Jene Art von Feind zu bekämpfen, dazu schlichen wir geduckt durchs Unterholz der Krüppelkiefern.
 
Ich kam mir selbst bisweilen wie ein Krüppel vor, denn welcher Mensch bewegt sich freiwillig so, als wenn er ein Krüppel wäre? Den Kiefern war das alles einerlei. Ich hoffte anfangs noch auf ihr Mitgefühl, aber sie waren ja selbst schon verkrüppelt. Sie kannten offenbar das Los der Soldaten in Ausbildung. Es war in etwa ihr eigenes. Der Feind wurde zwar anhaltend vermutet, doch ich weiß bis heute nicht, wer uns das eingeredet hatte. Ich war deshalb von Anfang an der Ansicht, dass der Feind überhaupt kein Interesse an uns hatte.
 
"Ton abgeben!" Das war verpöhnt. Wir durften noch nicht einmal niesen! Wer dennoch diesen unwiderstehlichen Reiz in seiner Nase verspürte, musste auf die Zunge beißen, natürlich auf seine eigene. Das half meistens. Doch ich hatte gelegentlich derart starke Niesreize, dass ich meine Zunge hätte durchtrennen müssen, um nicht zu niesen. Aber das wäre dann "Selbstverstümmelung" gewesen und hat bestraft worden. So nahm ich das geringere Übel in Kauf. Ich noss! Deshalb hätte man mich wohl nie zu einem Spähtrupp abkommandiert. Nach der Operation wollte man schließlich keine verstümmelten Soldaten empfangen. Ich nahm diese Gedanken als Trost, denn ich hasste Spähtrupps.
 
Von Anfang an fand ich es im Bereich der Krüppelkiefern nicht recht gemütlich. Ich hatte nun schon vieles über mich ergehen lassen. Immer wieder sagte man mir, was ich zu tun hatte. War ich nicht ein Mensch, der auch selbst sein Schicksal in die Hand nehmen konnte? Natürlich! Aber welche Entfaltungsmöglichkeiten hatte ich? Mein Eigenleben war bekanntlich in den vergangenen Wochen sehr eingeschränkt worden. Ich fühlte mich deshalb manchmal schon fast beschränkt. Doch wer kurbelte die Schranken auf und nieder? War es der Feind, der "imaginäre"?  Wer war eigentlich mein Feind? Waren es meine Stubenkameraden? Ach was! War es Fahnenjunker Kahnert?  Vielleicht. War es Feldwebel Krieger? Warum? War es die Bundeswehr?  Nein, das waren alles keine greifbaren Feinde! Gegen wen kämpfte ich eigentlich? Ich kämpfte ja gar nicht richtig, weil es keinen Feind gab. Er war ja imaginär.
 
Bei diesen Gedanken hatte ich plötzlich "die Nase voll". Dabei musste ich zum Glück nicht niesen. Ich betrachtete beide Daumen meiner ebenso beiden Hände. Meine Daumen waren schon etwas Besonderes.  Seit meiner Geburt, wie ich hinterher erfuhr, konnte ich sie auf Grund einer Bänderüberdehnung auskugeln lassen. Wie sieht das aus?  Nun, haltet euch eure rechte Hand weit vor das Gesicht , mit der Innenseite euch zugewandt! Nun seht ihr alle 5 Finger einschließlich Daumen. Ich war und bin bis heute in der Lage, den gestreckten Daumen auszukugeln, das heißt, nach diesem Vorgang erstreckt sich das Kugelgelenk des Daumens bis etwa zur Handflächenmitte und wölbt sich darüber. Der Rest, also das Ende des Daumens, weist dann eine besonders starke Rechtsweisung auf. Kurz:  Das alles sieht nach einer ernst zu nehmenden Verletzung aus. Bei der linken Hand gelten alle Ausführungen entsprechend, und zwar symmetrisch, auch die "Verletzung" sieht symmetrisch ernst zu nehmend aus.
 
Als ich nach einer halben Stunde noch immer gegen einen imaginären Feind kämpfte, besann ich mich auf meine Tugenden und - "kugelte" mir den rechten Daumen aus. Etwas verlegen hielt ich ihn Hartmut entgegen. "Was hast du denn gemacht?" fragte er leicht schockiert. "Ich weiß nicht," gab ich kleinlaut zurück, "ich glaube, da stimmt was nicht." "So kannst du doch nicht weiter machen", fügte er hinzu (und das wollte ich ja auch nicht). "Ich würde das Fahnenjunker K. mitteilen, das sieht ja schlimm aus!"  "Ja, es sieht nicht gut aus!" antwortete ich. Fahnenjunker K. hatte inzwischen schon bemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Er trat näher, den Feind außer Acht lassend, und wendete sich mir zu: "Zeigen Sie mal, Hoffmann, oh, was ist das? Wie haben Sie denn das gemacht? Das sieht ja fürchterlich aus!"  "Ich weiß nicht," gab ich etwas wenig selbstbewusst zurück. "Na, da müssen Sie aber zum Sanitätsbereich. Das muss untersucht werden! Können Sie alleine zur Kaserne zurück gehen?  Ich meine, brauchen Sie niemanden, der mit Ihnen geht? Schaffen Sie es also ohne Begleitung?" fragte er. "Ich glaube, mit Sicherheit!" antwortete ich. "Nun denn, dann mal los! Hoffentlich ist nichts gebrochen!" hörte ich noch, als ich mich meinem abgelegten Sturmgepäck näherte, um es aufzunehmen. "Nun, lassen Sie das Sturmgepäck liegen, es wird jemand für Sie zurück tragen!" rief Fahnenjunker K. schon fast bestimmend.
 
Wie sollte ich das dem Träger wieder gutmachen? Meine Stubenkameraden warfen mir noch einen verunsicherten Blick zu, bevor ich mich auf den Rückmarsch begab, diesmal recht kriegsunähnlich, ohne Gewehr und Sturmgepäck. Gut, dass ich wusste, auch diesmal würde der Feind ausbleiben. Hätte der im Ernstfall etwa auf meinen Dauen gezielt? In diesem Augenblick begriff ich, wie menschlich doch unser Dienst vonstatten ging, und ich spürte bereits jetzt, nach wenigen Minuten, ein großes Unbehagen. Was war ich für ein Soldat? Ich tröstete mich damit, so etwas im Ernstfall niemals gemacht zu haben, und ging anschließend trotz allem mit erleichterten Schritten zur Kaserne zurück. Ich kam mir vor wie ein Einzelgänger, denn ich war ja auch einer. Während meine Kameraden fortan im Unterholz der Krüppelkiefern - so verkrüppelt kamen sie mir nun nicht mehr vor - den Krieg übten, zog ein einzelner Soldat hinter der Front zur Kaserne zurück.
 
Bald erreichte ich das schützende Revier. Die Luft war widererwartend angenehm warm geworden. Soldaten, die mir begegneten und mich grüßten, kamen mir wie Untergebene vor. Ich hatte ein kleines Stück Schicksal in meine Hände, vor allem in die rechte, genommen. Ich hatte einen kleinen Sieg über mich selbst errungen. Ich hatte die Beziehung zu mir selbst noch nicht verloren, ich kannte mich noch! Nun hätte es nur noch gefehlt, mich selbst zu grüßen. Aber die Geschichte hatte eben erst begonnen.
 
Allmählich fing mein Daumen wirklich an zu schmerzen. Ich konnte ihn jetzt doch nicht wieder einkugeln! Meine "Verletzung"  musste ich für alle sichtlich vorzeigbar bewahren. So wanderte ich recht zivilistisch der Kaserne zu. Ich schlug den Weg zum San-Bereich ein, gemäß Befehl von Fahnenjunker K. . Je näher ich kam, desto mehr stieg in mir  die Angst hoch, dass medizinisch geschulte Menschen meiner Schliche auf die Spur kommen könnten. Mit dieser Angst auf Grund eigenen Verschuldens betrat ich den Sanitätsbereich unserer Kaserne.
 
Der Stabsarzt sah meinen ausgekugelten Daumen bereits von weitem. Er bemerkte: "Nicht schlecht! Tut´s weh?"  "Etwas schon", antwortete ich, und das war nicht einmal gelogen. Ich erinnerte mich an meinen vormaligen Besuch im San-Bereich, als ich kaputte Füße hatte. "Lassen Sie ruhig scheuern, Sie sind Soldat!" Jetzt klagte ich nicht, nun war ich recht tapfer, was mir zudem recht leicht fiel.
 
Der Stabsarzt fummelte nun etwas an meinem Daumen herum, den ich verkrampft spannte, damit er sich nur ja nicht vorzeitig einkugelte. "Ich könnte jetzt ein paar Experimente machen", sagte er dann, "aber Ihr Daumen ist mehr die Angelegenheit für einen Spezialisten, so wie das aussieht. Ich überweise Sie zu einem Facharzt in Hannover." 
 
Was sollte ich dazu sagen? Jetzt war ich erst recht ein Opfer meiner eigenen Selbstständigkeit geworden. Das hatte ich nun davon. Jetzt sollte ich sogar noch einen Facharzt hinters Licht führen. Noch nie hatte ich meine Kameraden im Gelände, wie verkrüppelt die Kiefern auch sein mochten, so beneidet!  Ein Jeep wurde bereit gestellt! Ich bekam einen eigenen Fahrer! Ich fühlte mich - wenn auch unvollkommen - wie ein Vorgesetzter. 
 
Mein Fahrer brachte mich sicher ans Ziel, zu einem Facharzt, der mein Knochenleiden schon richtig durchschauen würde. Jetzt würde alles ans Tageslicht gebracht. "Klaus Hoffmann hat unter Einsetzung einer naturgegebenen Mißbildung seiner Hände sich dem Dienst im Gelände entzogen, somit Kameraden und Vorgesetzte getäuscht, verunsichert und in Entscheidungszwänge gebracht, die einer tatsächlich vorhandenen Entscheidungssituation nicht entsprechen. Ein solcher Soldat ist somit untragbar, da er seine Kräfte nicht bedingungslos in den Dienst der Armee stellt." (Ich hatte meine Kräfte in den Dienst meiner verlängerten Arme gestellt.) 
 
Nach dieser eigenen dienstlichen Beurteilung wurde meine Angst vor dem Facharzt noch größer. Zunächst verbrachte ich bange Minuten im Wartezimmer. Dann, endlich, war es so weit! Noch immer hielt ich meinen Daumen der rechten Hand verkrampft fest - oder hielt er sich an mir fest? Es schmerzte echt immer stärker. Für den Facharzt war die Sache ebenfalls etwas außergewöhnlich. Ich musste mich einer ausgedehnten Röntgenoperation unterziehen. Röntgenlicht? Schlimmer als Tageslicht! Nach erfolgter Prozedur verblieb ich ohne Ergebis noch etwa eine halbe Stunde im Wartezimmer. Dann kam der Facharzt mit federndem Schritt, mit Neigung zu Verlangsamung, damit alles spannender würde, auf mich zu.
 
Seine rechte Hand streckte er mir entgegen, fast wie zu einer kameradschaftlichen Grußbezeugung. Meine Bereitschaft zur Erwiderung war nicht sonderlich hoch. Dennoch streckte ich meine rechte Hand etwas vor. Er ergriff sie, dann meinen Daumen, zerrte ruckartig an demselben - und damit war er spontan wieder eingekugelt. (Das hätte ich auch selbst gekonnt.) Endlich! Die Schmerzen ließen nach! "Sie haben von Geburt an eine Bänderüberdehnung", sagte er. (Von ihm habe ich übrigens mein Wissen darüber.) "Es ist aber nichts, was Besorgnis erregen müsste," fügte er noch hinzu.
 
"Kann so etwas denn schon mal wieder passieren?" wollte ich wissen. "Ja, natürlich, aber das Gelenk springt sofort wieder rein, wenn man daran zieht." Nun wusste ich, woran ich war. Und das musste ich auch meinen Stubenkameraden und meinem Fahnenjunker abends klar machen. Mein Geheimnis nicht preisgebend, erzählte ich Geschichten von meiner ausgekugelten Hand, von Schmerzen, die kaum aufgetreten waren. Niemand hat etwas von meinen echten Nöten je erfahren, die ich an diesem Tag durchlitten hatte. Meine Leidensmiene wurde von allen akzeptiert, weil jeder spürte, dass ich zu bemitleiden war. Am Abend dieses denkwürdigen Tages hatten wir alle unseren Dienst geleistet. Mein "Dienst" hatte mich selbstbewusster gemacht, aber wohl nur auf Grund günstiger Umstände. Günstige Umstände sind meist gut. Ich sollte aber fortan nicht nur ein "Günstling" bleiben. Und das war im Sinne meiner Kameraden nur allzu gerecht.
 
9. Juni
 
Ich sitze hier im Flughafenpark Hannover-Langenhagen auf einer schattigen Bank und genieße den frühen Sommer. In dienstfreien Stunden scheint mir die Sonne eher zugetan als sonst. Bald wirdes dreizehn schlagen. Zu dieser Tageszeit gesellt sich zu meiner inneren Ruhe - oder besser Müdigkeit - auch noch eine angenehme Pausenstimmung über dem Flughafen. Zudem ist Sonntag. Wie habe ich diesen Wochentag inzwischen schätzen und lieben gelernt! Ein Tag, an dem ich in meinen Vorstellungen und mit meinen Erwartungen in Stunden des gespielten Krieges besonders hing!
 
Der Sonntag versprach Frieden, Erholung und die Einschätzung, daß auch der anstrengendste Dienst bald einen angenehmen Ausgleich finden würde. Wie kostbar waren jene Stunden an einem freien Wochenende. Müdigkeit - obwohl vorhanden - durfte einen nicht bis zum Einschlafen übermannen. Das war unverzeihlich. Als Soldat findet man immer eine Gelegenheit zum Schlafen, so zwischendurch im Dienst, meine ich.  Ich erinnere mich daran, daß ich einmal auf Grund einer zweimal hintereinander durchübten Nacht während des Marschierens am hellichten Tage fast eingeschlafen wäre, wenn mich nicht ein Kamerad hinter mir im letzten Moment energisch gefasst und vor dem Sturz in einen Wassergraben bewahrt hätte.
 
Die 3. Batterie fährt zu Beginn des nächsten Monats drei Wochen an die Ostsee. Vielleicht bin ich dann schon wie ein nach der Grundausbildung frisch geschliffener Diamant dabei. Die Schreibstube fährt natürlich mit, das Manöver ist schließlich für alle da. Ein Kamerad erzählte mir, dass solche Übungen einen besonderen Reiz im Soldatenleben ausüben könnten, vor allem für mich als Neuling auf der Schreibstube. Ich hätte ja mit Geschützen und anderen Waffen nichts zu tun, würde eben nur schriftlich arbeiten und dabei auch noch im Trockenen sitzen. An der Ostsee bliese bisweilen ein unangenehm kalter und starker Wind. Nichts für Schreibmaschinen und Din A 4 - Bögen, die man davor schon zu schützen wisse, genauso wie das Dienstpersonal. Also malte ich mir nach der bald hinter mir liegenden Grundausbildung vorstellungsmäßig ein paar schöne Ferientage an der Ostsee aus und überhaupt eine bessere Zeit als bisher seit dem 1. April. Sonntagsstimmungen sollte man jedoch hinsichtlich ihrer Aussagekraft gegenüber der zu erwartenden Realität nicht überschätzen!
 
10. Juni
 
Heute musste ich mich beim Schreibstubenchef der 3. Batterie vorstellen. Ein netter junger Mann, der in einem ganz normalen Ton mit mir sprach, was Lautstärke und Ausdruckweise betraf. Lagen hier etwa ganze Welten zwischen den einzelnen Kasernenblöcken? Ein Feldwebeldienstgrad mit einwandfreien Manieren. Man hatte mich während der harten Grundausbildung wohl doch nur bangemachen wollen. Die Schreibstube ist riesengroß und besteht aus drei durchgehenden Räumen, die von vielen Soldaten wohl täglich "durchgehend" benutzt werden, so stumpf sah der dunkeloliv schimmernde Bodenbelag aus. Offensichtlich gab es hier bisher doch eine Menge zu tun. 
 
Ich gab eine kurze Vorstellung meiner Maschinenschreibkunst auf einem mechanischen Ungetüm und merkte sofort, dass meine mir selbst beigebrachte Dreifingermethode bezüglich ihrer Schnelligkeit Eindruck beim Feldwebel erweckte. Ich las aus seinem Mienenspiel seine Gedanken, dass mit Schreibmaschine und Abitur in dieser Umgebung wohl etwas zu machen wäre und fühlte mich nach getaner Arbeit schon fast wie der neue Stabsdienstsoldat der 3. Batterie im Flugabwehrbataillon der Boelcke-Kaserne in Hannover-Langenhagen. Natürlich hatte ich meine Rechnung ohne den Spieß (Hauptfeldwebel) gemacht. Der konnte den Spieß jederzeit noch herum drehen, sozusagen als Meister der Befehlsausgabe. So kam ich mit gemischten Gefühlen auf meine Stube in der Ausbildungskompanie zurück. Ich war mir aber nicht sicher, ob ich auf diese schon herab sehen sollte in Erwartung eines komfortableren Zimmers bei den anderen "Schreibstubenhengsten". Deshalb genoss ich erst einmal ein weiteres der vielen Gespräche mit meinen alten Kameraden, hatten wir doch nun fast drei volle Monate zusammengehalten und uns gegenseitig unterstützt in Dick und Dünn, bei Regen und Wind, bei Alarmen und Märschen und Übungen aller Art.
 
Trotz mancher Entbehrungen und Verzichte, gerade auf Grund der Entzugserscheinungen der zivilen Lebensführung - war die Bilanz unserer frohen Stunden nicht schlecht. Multum, wenn auch nicht multa.                                                 
 
14. Juni
 
Fern der Heimat hat das Telefon immer eine besondere Bedeutung. Der Nachteil des Telefonierens besteht jedoch darin - da es mit Unkosten verbunden - dass man in kurzer Zeit möglichst viel sagen will und daher zunächst nicht weiß, mit welchen Worten man ein Gespräch beginnen soll. Die Aufregung beim Telefonieren ist daher das Kostspieligste.  Heute habe ich endlich wieder 34 DM Wehrsold erhalten. Ebenfalls eine sehr aufregende Sache, weil ich kein Geld mehr besaß. Wahrscheinlich ziehe ich am Samstag (22. Juni) in meine Stammbatterie um. Dies bedeutet dann das Ende der Grundausbildung!! Ich werde Stabsdienstsoldat! An Heimaturlaub ist jedoch nicht zu denken. Diejenigen, die während des Manövers hierbleiben, haben die unangenehme und langweilige Aufgabe, Wache zu schieben, eine Tätigkeit, bei der man sich Einsteins Relativitätstheorie einverleiben könnte. Ich fahre voraussichtlich mit zur Übung. Obwohl ich zur Zeit sehr wach bin, hat man mich nicht für die Wache bestimmt.
 
Die letzten Tage der Grundausbildung waren hart. Wir hielten uns fast jeden Tag im Gelände auf, am vergangenen Donnerstag sogar von 2 Uhr früh bis 15 Uhr nachmittags. Viele Grashalme kamen mir bekannt vor, als hätte ich sie schon mal woanders gesehen. Die Hitze machte uns schwer zu schaffen, aber wir sind alle - bis auf einen, der besonders hart zwischen genommen wurde - gut über die Runden gekommen. Wir bedauern die armen Neulinge, die ab 1. Juli von Anfang an in sommerlichem Klima ihren Dienst verrichten müssen. 
 
Nächste Woche geben sich bei uns noch einige Appelle die Hand. Die Vereidigung ist wahrscheinlich am Mittwoch, und danach wird die Besichtigung stattfinden. Nächste Woche ist sozusagen "Sommerschlussverkauf" der Grundausbildung.
 
Morgen ist Gruppenabend bei unserem Ausbildungsfahnenjunker. Er hat mich darum gebeten, mich dort von meiner spaßigen Seite zu zeigen, damit alle etwas zu lachen haben. Vielleicht werde ich mich dort richtig austoben können,  lieber zu einem solchen Anlass als draußen im Gelände. Ich nehme Abschied vom Grundwehrdienst mit gespaltenen Gefühlen. Viele Strapazen werden nun ein Ende haben, aber ich werde auch viele gute Kameraden verlieren und auch Ausbilder, auf die ich mich einzustellen gelernt habe und die mir im Räderwerk der Dienstgrade in ihrem erlaubten Machtbereich verstärkt als Menschen erschienen mit mehr oder weniger bekannten Schwächen und Stärken. Neuland ist in Sicht!                                                
 
15. Juni
 
Heute bin ich zum erstenmal G.v.D. (Gefreiter vom Dienst) Ich sitze hier auf dem U.v.D.-Zimmer und nehme Telefongespräche an oder schreie ab und zu mal über den Flur. Mein Dienst, der bis morgen mittag dauert, bringt mich glücklicherweise um einen Orientierungsmarsch, der als "erzieherische Maßnahme" für heute Nachmittag angesetzt wurde. Wozu soll ich mich auch erziehen lassen?
 
Habe ich nicht mein Bestes gegeben? Ich stellte fest, dass man mit einem Glücksgefühl prima schreien kann. Ich hatte in den vergangenen 11 Wochen manches Geschrei gehört, nur nicht mein eigenes. Nun war ich einmal dran! Ich konnte es! Ich schrie meine Befehle in den Flur, dass es laut nachhallte! Ich war dazu verpflichtet! Alle Kameraden, die noch zugegen waren, mussten akustisch erreicht werden. Ich schaffte es! Ich spürte zum erstenmal, dass Brüllen auch schön sein kann, dass es einem etwas gibt. Und als ich den Dienstplan für die kommende Woche erhielt, wurde ich noch froher. Dienstende am Montag schon um 10 Uhr! Außer einigen Appellen und dem unangenehmen "Stillgestanden" lag eigentlich nichts vor. Auslaufwoche!
 
Ich bin jetzt froh und pendele zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her. Ich meine zu spüren, ich hätte jeden Grundausbildungsdienst bereits hinter mir. Aber da kommt noch die 12. Woche! Zunächst einmal sitze ich hier auf der U.v.D.-Stube zwischen Telefon und Kofferradio und warte auf ein Gespräch oder ein besseres Radioprogramm. Als Soldat wartet man eigentlich ständig. Vor mir liegt eine lange Nacht. Eine ruhige Zeit, ohne Alarm. Ich habe Zeit! Doch was fange ich damit an? Ich warte, bis mir was einfällt. Was mir einfiel, weiß ich nicht mehr. Doch mit Sicherheit lassen einen die Gedanken nie im Stich. Cogito, ergo sum. Ich war - müde!                                               
 
17. Juni
 
Heute ist es trübe und regnerisch. Der Dienst dauerte von 7 bis 10 Uhr. Wir sahen uns einen Film an aus Anlass des 17. Juni 1953. Anschließend hielt der Bataillonskommandeur vor dem gesamten auf dem Exerzierplatz angetretenen Bataillon eine Gedenk- und Mahnrede. Diese dauerte nur 30 Minuten, so dass es nur zwei Soldaten vom Stehen schlecht wurde. Doch diese Kameraden waren nicht von der Ausbildungskompanie, denn wir sind schließlich Stehen gewöhnt. Anschließend war dienstfrei. Nun gibt es hier noch für die am kommenden Donnerstag und Freitag stattfindende Besichtigung so allerhand zu tun:
 
Heute habe ich zum erstenmal gebügelt (Ausgehhose, Diensthose, Arbeitshose). Außerdem habe ich wie wild gewaschen (Turnhemd, Schlafanzug, Socken, Diensthemd, Privathemd, Taschentücher und Koppel, ja sogar den Stahlhelm). So habe ich den ganzen Nachmittag gemütlich verkrost. Gestern faulenzte ich. Nachmittags legte ich mich im Flughafenpark auf die Wiese und schlief, einerseits, weil ich etwas müde war vom vorangegangenen Abend, andererseits, um nicht in Versuchung zu kommen, zu viel Geld auszugeben. Morgen werde ich mir erneut einen schönen Nachmittag machen, denn mittags fahre ich nach Hannover zu einem Facharzt, um einen leichten Ausschlag im Gesicht behandeln zu lassen.
 
Sehe ich jetzt auf die vergangenen elf Wochen zurück, so muss ich sagen: Es gab manch Unangenehmes, Sinnloses und Strapaziöses, das besonders in der ersten Zeit schwer zu ertragen war. Jedoch jetzt, wo sich das Ende nähert, gab es immer mehr angenehme Stunden in dem Sinne, dass einem die Kameradschaft und das gemeinsame Verständnis füreinander über manches hinweg half. Dennoch würde ich einer sofortigen Entlassung aus dem Wehrdienst umgehend zustimmen: Und würd' man mich entlassen, so könnt' ich es nicht fassen und würde mich besaufen und gleich nach Hause laufen.
 
Donnerstag, 20.06.1963
 
Der erste Tag der Besichtigung ist vorbei. Es verlief nicht gerade alles zufriedenstellend. Manches klappte noch nicht so richtig. Es kommt bei solchen Anlässen immer eine Portion Aufregung dazu. Ein Kommandeur ist eben doch etwas anderes als ein Gruppenführer oder Zugführer. Morgen müssen wir noch eine halbe Stunde lang unser bestes im Gelände geben. Morgen Abend ist dann die Grundausbildung endlich vorbei. Samstagfrüh kommen die meisten von uns zu ihrer Stammeinheit. Das bedeutet eine Unmenge an Arbeit. Zunächst muss ich alles auspacken und reinigen und viele Dinge abgeben - und das alles bis Samstag 7 Uhr. Anschließend erfolgt dann mein Umzug in die dritte Batterie. Das große Verpacken folgt auf dem Fuße. Was nehme ich nur mit zur Übung außer allem? Gut, dass es geräumige Kisten gibt! Meine Privatsachen sind auch dabei, das Wichtigste!
 
Nach einem Alarm wird die Übung am Samstag oder Sonntag beginnen. Macht Euch keine Sorgen, wenn Ihr über einen längeren Zeitraum nichts oder nur wenig von mir hört. Die vier Wochen des großen Manövers gehen auch vorbei. Habt Dank für das liebe Päckchen, über das ich mich sehr freute - ein Stückchen Heimat wird dann jedesmal hier offengelegt, wenn ich das Schatzkästlein öffne. Meine Zukunft ist ungewiss - Eure nicht? Bei seelischen Störungen meinerseits nehme ich Zuflucht zu meinem Konfirmationsspruch. Bis bald, alles Gute. Mein Gott!
Ankunft im Neuland
 
25.06.1963
 
Ich grüße Euch herzlich aus unserem ersten Übungsgebiet in Uedem/Niederrhein. Wir liegen hier auf einem Bauernhof und schlafen nachts im Heu. Außer dem Schreibstubenwagen steht hier noch der große Küchenwagen, so dass man nicht verhungern kann. Zu tun gibt es fast nichts. Wir legen uns in die Sonne oder ärgern die Schweine und Ferkel. Sonntagmorgen um 6 Uhr gab es Alarm. Um 10 Uhr rückten wir aus. Alles verpackt und den Schreibstubenwagen verladen hatten wir bereits am Samstag.
 
Man kann ja nie wissen! Der imaginäre Feind! Unsere gesamte Ausstattung wurde am Sonntagabend auf Güterwagen verladen. So fuhren wir mit einem riesenlangen Zug, auf dem die Panzer, Geschütze und Fahrzeuge festgezurrt waren, durch die Nacht. Wir fanden teilweise im Gepäcknetz unsere Nachtruhe oder auf den Bänken. Für das Entladen benötigten wir einen halben Tag. Dieses Manöver ist wirklich ein Erlebnis für mich. Ich vermisse jedoch meine alten Kameraden, muss ohne sie auskommen und mit manchen alten Füchsen zusammenarbeiten.
 
In Todendorf ist Luftzielschießen. Todendorf liegt zwischen Lübeck und Kiel in der Nähe der Ostseeküste. Hoffentlich gibt es nach diesem Manöver einen Tag Sonderurlaub.  Aber das Manöver hat ja erst begonnen. Den Sonderurlaub muss ich mir erst einmal verdienen. Und damit bin ich meinungsgleich mit unserem gefürchteten Spieß, dem geschätzten "Batterie- Hauptfeldwebel.
 

 

Auf meiner Namenliste stehen noch folgende Kameraden:

 

Fw Krieger, GUA Lampe, Fhj Kahnert, Wetzel, Bäumker, Fuhl, Ceclarek, Kramer, W. Meuter, Wrobel, Meißner, Czaika, Reinhardt, Fw Balzer, Aschemann, StUffz Rumpel, Gaertner, Hptm Igné, Blum, HFw Bartsch

 

 

Wo du nicht bist, kann ich nicht sein .... (Teil 3)

 

Nach der Grundausbildung bis zum Ende der Wehrpflicht

 

Augen... rechts, die Augen... links

(Vereidigung - besser als Verteidigung)

 

Kevelaer, den 28. Juni 1963

 

Wir stehen hier kurz vor dem Aufbruch. Die Übung im Raume Uedem gestaltete sich recht angenehm, zumindest für uns von der Staffel 2, das heißt Schreibstube und Küche. Wir hatten zwei Tage Fliegeralarm und mussten aus Sicherheitsgründen stets sofort in Deckung gehen, wenn ein Düsenjäger im Tiefflug über den Bauernhof jagte. Nachts standen wir Wache, sehr anstrengend! Jedoch hatten wir am Tage manchmal Zeit, den versäumten Schlaf nachzuholen. Ich half zeitweise in der Küche, es gab eine Menge zu spülen. Jedoch war ich froh, zeitweise eine Beschäftigung zu haben.

 

Die Gegend ist sehr ländlich. Neben kleineren Orten gibt es hier nur einzelne Bauernhöfe, die weit verstreut in der Ebene liegen. Ich hatte Zeit, ausgiebig das Leben auf einem dieser Höfe zu studieren. Wir Soldaten tobten im Heu herum und genossen nachts die Nachbarschaft der Kälber, die sich hervorragend in aller Frühe bemühten, uns wach zu kriegen.

 

Heute Abend werden wir verladen. Morgen könnten wir dann an der Ostsee ankommen, um alles wieder abzuladen und einzuräumen.

 

Todendorf, den 30. Juni 1963

 

Alles anders als erwartet! Prima Unterkünfte! Das Essen ist auch besser als in der Boelcke-Kaserne. Das gilt ebenso für Kantine und Speisesaal. Und das alles am Ende der Welt in Ost-Holstein. Todendorf liegt direkt an der Ostsee in der Nähe von Lütjenburg, also zwischen Lübeck und Kiel. Für alle, die mir einmal schreiben wollen, hier meine Anschriften:

 

3 Hannover-Flughafen, 3./FLA Btl 1, Boelcke Kaserne

2321 Todendorf/Ostholstein, 3./FLA Btl 1, Lager C

 

Ich bin noch bis zum 17. Juli hier oben.

 

Eine etwas ungewöhnliche Zugreise von 24 Stunden, teilweise von mir im Gepäcknetz verschlafen,  liegt hinter mir. Etwa die Hälfte davon verbrachten wir abseits auf Abstellgleisen, denn zu Friedenszeiten haben selbst Güterzüge noch Vorrang vor einem Bundeswehr-Lindwurm, bestehend aus auf Waggons festgezurrten Panzer- und Räderfahrzeugen. Selbst zwei vorgespannte Dampflokomotiven vermochten den restlichen Bahnverkehr kaum zu beeindrucken. Um Hamburg herum erlebten wir einen kompletten Sonnenuntergang vor einer herrlichen Hansestadtkulisse.

 

In der Schreibstube habe ich heute schon meine ersten Arbeiten verrichtet- es gibt natürlich viel mehr zu tun als in Kevelaer. Ich bin in der 3. Batterie natürlich noch immer "der Neue". Vielleicht wird man mich aber bereits beim nächsten "Abend zur Unterhaltung" schon näher kennenlernen. Morgen gibt es hoffentlich Geld, denn mein Kassenstand ist nicht gerade erfreulich. Nach dieser Übung besteht Hoffnung auf einen Tag Sonderurlaub, mit dem ich wahrscheinlich ein Wochenende zu Hause verlängern kann.

 

Hier oben herrscht Hochbetrieb. Es laufen auch Soldaten aus Süddeutschland und viele andere der Flugabwehr herum. Manchmal trifft man gute Bekannte wieder. So habe ich heute Morgen zum Beispiel meinen ehemaligen Stubenkameraden Klaus Wetzel wiedergetroffen, der nach Braunschweig zur FLA 20 versetzt wurde.

 

Todendorf, 2. Juli 1963

 

Es ist kurz nach Zehn. Ich sonne mich auf der Liegewiese in der Nähe unserer Unterkunft. Diese paar freien Minuten werden heute Abend durch Überstunden ausgeglichen. Inzwischen habe ich schon einige Disziplinarstrafen nach Vorlage ausgefüllt, Listen getippt, Meldungen angefertigt und Batteriebefehle geschrieben, Einschreiben weggebracht und die Hosen vom Spieß gebügelt. Auch hier oben verstehe ich mich mit der Schreibmaschine am besten. Mein individuelles Dreifingertippsystem wurde von ihr voll akzeptiert. Mein Hauptfeldwebel glaubt noch immer nicht, dass ich für mein recht gut hörbares Schreibtempo nur drei Finger benötige.

 

Es gibt ein Leben nach der Grundausbildung. Hier in der 3. Batterie sind jedoch recht häufig Appelle. Ich brauche wohl nicht alle mitzumachen. Heute jedenfalls war ich nicht dabei, um mein Kochgeschirr, meine Feldflasche, mein Essbesteck und mein Zelt auf mikrobiologische Verunreinigungen untersuchen zu lassen. Ich hatte auf der Schreibstube zu arbeiten. Begrüßenswert auch: Die Anzahl der Märsche hat verglichen mit der Grundausbildung abgenommen.

 

Gestern Abend überschritten drei meiner Batterie- Kameraden den Zapfenstreich. Das wird sich für uns allgemein nicht günstig auswirken. Hier haftet einer für den anderen.

 

Die Gegend außerhalb des Kasernenbereichs macht auf mich einen einsamen und verlassenen Eindruck. Weit und breit kein Haus. Statt dessen ein großer Flugabwehr- Schießplatz. 

 

Ich befinde mich nun an der Urlaubsschein- Quelle. Wahrscheinlich habe ich davon ähnliche Vorteile wie ein Kassierer bei der Sparkasse durch seine Banknoten. Im Durchschnitt alle vier Wochen werde ich ein verlängertes Wochenende erhalten, wenn der Feind weiterhin sich anschickt, "imaginär" zu bleiben. In der restlichen Zeit darf ich mit den Urlaubsformularen spielen.

 

Todendorf, den 4. Juli 1963

 

Die Zeit, die ich zum Schreiben an eine Geliebte noch nicht aufzubringen brauche, könnte ich ja mal für ein paar Zeilen an meine Oma verwenden, die im Altenheim lebt. Hier oben habe ich vom Besuch Kennedys in Deutschland so gut wie nichts erfahren, weniger als meine Großmutter. Man hat eben kaum Zeit, sich zu informieren. Jetzt im Augenblick kommt der Spieß zu mir. Ich soll eine schwere Kiste ins U.v.D.- Zimmer schleppen. Jawoll, Herr Hauptfeld!

 

Gestern waren wir in Laboe und besuchten das 72 Meter hohe Marinedenkmal. Ein idealer Ferienort! Einsam gelegen direkt am flachen Strande der Ostsee, aber reger Betrieb und gute Bademöglichkeiten. Das Wasser ist sehr flach. Erst nach 100 bis 200 Metern kann man richtig schwimmen. Vom Turm aus, 84 Meter über dem Meeresspiegel, kann man bei guter Sicht die Stadt Kiel sehen. Ein überwältigender Ausblick: Zur Linken die tiefblaue Ostsee, am Fuße des Turms das rege Treiben der Menschen, zur Rechten das hügelige Ostseehinterland mit Buschgruppen und riesigen Weiden und über mir der stahlblaue Himmel. Über dem Horizont weit jenseits des großen Wassers eine grünblaue Dunstschicht mit einer tiefdunklen Öffnung und darin weiße hoch quellende Wolken, dort über Stunden verweilend. Das glitzernde Wasser, auf dem die Möwen dahin glitten, weit entfernte Segelboote und ein Leuchtturm grüßen herüber. Schade, dass wir schon um 18 Uhr wieder abfuhren.

 

Heute habe ich den größten Teil des Tages hinter der Schreibmaschine gesessen. Nebenbei laufe ich hier auch etliche Stecken ab, von Feldwebel zu Feldwebel, dann zum Leutnant und wieder zurück zum Geschäftszimmer. Das ist natürlich überhaupt nichts im Vergleich zur Grundausbildung mit den zahlreichen Märschen und der Infantrie - Gefechtsausbildung. Meinen alten Kameraden Klaus sehe ich hier jeden Tag. Der arme Junge! In seiner Batterie sind manche Rüpel. Einundzwanzig Leute haben gestern den Zapfenstreich missachtet. Ein neuer Rekord! Folglich wurde die gesamte Batterie mit Märschen und Formalausbildung bestraft.

 

Über den Urlaub nach dem Manöver entscheiden Batteriechef oder Kommandeur. Zumindest müsste für mich ein "Verlängertes" drin sein.

 

Todendorf, 7. Juli

 

Gestern war ich am Strand. Die Sonne ließ sich dort kaum blicken. Wahrscheinlich genügte mein Anblick. Die Schreibstube hat den Vorteil, dass ich meine Briefe stets aus erster Hand erhalte. Da ist schon einiges eingetroffen von Freunden und Bekannten. Manchmal kommt fast eine urlaubsähnliche Stimmung auf. Mir geht es also recht gut. Dennoch lebe ich in zwei Welten: In Gedanken zu Hause und ohne Gedanken bei der Bundeswehr. Jeder Brief von Zuhause ist ein kleines Fest und dort darf ich vielleicht in zwei Wochen endlich mal wieder sein.

 

Todendorf, 9. Juli

 

Gestern wurde ich zum Lagerstreifendienst eingeteilt. Das heißt: für Ruhe und Ordnung innerhalb und außerhalb des Schießplatzes zu sorgen, notfalls, zum Beispiel bei Schlägereien, einzugreifen, also mit zu prügeln, und im äußersten Falle sogar von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, was aber wirklich das letzte ist und nur im Falle von Notwehr angewendet werden darf. Doch gestern, am Montag, war alles ruhig und wie ausgestorben. Nicht einmal die Kneipen waren besucht, in denen sonst, besonders nach der Wehrsoldausgabe und am Wochenende so allerlei passiert. Infolge jener Ruhe war auch mein Dienst ähnlicher Art. Fast den gesamten Montagmorgen lag ich auf dem Bett und schlief. Nachdem ich zum Essen gegangen war, schrieb ich Briefe - so wie diesen hier. Danach legte ich mich erneut aufs Ohr. Ein Fahrer, ein Oberfeldwebel, ein Gefreiter und ich unternahmen anschließend eine Streifenrundfahrt, bei der ich die nähere Umgebung von Todendorf einmal näher kennen lernte. Nachdem wir fast 30 Kilometer mit dem Jeep über holprige Waldwege, lehmige Feldwege und schlechte Straßen geschaukelt waren, kehrten wir gegen 16 Uhr mit Dienstanzug, Helm und Pistole ausgerüstet wieder zurück. Eine echte Bildungsfahrt, nach der ich bis zum Abendessen weiterschlief. Nachdem ich sechs Scheiben Brot verputzt hatte und in meine Stube zurückgekehrt war, legte ich mich erneut aufs Bett und las Zeitung. Das mit Kennedy sollte mir nicht noch mal passieren.

 

Zu unserem letzten Streifengang um Mitternacht erhob ich mich natürlich wieder. Wir kontrollierten, ob die Kaserne pünktlich schloss, gingen die Lagerstraße auf und ab, verabschiedeten uns dann und gingen zu Bett. Einen solchen Dienst gibt es aber nicht an jedem Tag.

 

Heute scheint mir aber auch nicht viel mehr los zu sein. Ich bin gerade zwei Stunden vom Schreibdienst befreit worden, da es für drei Mann zu wenig zu tun gibt. Unser Chef hat selbst gesagt, dass wir uns hier oben erholen sollen. Deshalb helfe ich schon mal ein wenig nach. Nur ja dem Spieß möglichst wenig begegnen! Für den ist Erholung ein Fremdwort. Der entdeckt bei mir sofort jede freie Minute.

 

Nach dem Mittagessen gab es dann doch wieder mehr zu tun. Außerdem nahm ich an einem Schuhappell teil. Fast zwei Stunden hatte ich mich darauf vorbereitet, und dennoch fiel ich mit meinen Stiefeln auf. Unter einer Einlegesohle befand sich noch etwas Stroh. Jene Kleinigkeit hatte jedoch recht angemessene Folgen: Nachappell und ein gestrichener Ausgang. Gestrichen voll auch die Nase. Also kein Kino- Ausgang. Wieder einen berühmten Film verpasst. Eigentlich klar, dass ich auffallen musste, denn ich bin neu in der Batterie und man will mir zeigen, wie es hier so zugeht. Gerade mein Schreibstuben- Feldwebel war es, der mich notierte, eine Taktik von ihm, wie meine Kameraden vermuten. Dieser Augenblick kommt stets für jeden neuen "Schreibstubenhengst". Die anderen Soldaten sollen es mitbekommen, dass wir als Kontaktpersonen zu den "höheren Tieren" auf keinen Fall von denen bevorzugt behandelt werden. Stroh kann eben sehr bedeutsam werden. Manche tragen es in den Stiefeln, wieder andere im Kopf.  Ich komme mit meinen neuen Kameraden bis jetzt aber sehr gut zurecht. Das ist viel wichtiger als nach oben "Rad zu fahren" und nach unten zu "treten".

 

Todendorf, 10. Juli

 

Bei der Bundeswehr wird man immer schärfer bei der Suche nach Abiturienten. So wurden zum Beispiel in Solingen alle Abiturienten des Jahrgangs 1944 frühzeitig gemustert, obwohl viele schon im Studium stecken. Ich kenne einige, die nun damit rechnen müssen, bereits zum 1. Oktober einberufen zu werden. Schade, dass man an mir hier keine große Stütze findet. Man hat die "Bearbeitungen", mich für zwei Jahre zu verpflichten und aus mir einen Leutnant der Reserve zu machen, inzwischen längst aufgegeben, wohl weil ich mich einmal bei einem kleinen Test weigerte, Hindenburg zu kennen. Seltsam aber, dass manche Leutnante sogar nicht wissen, warum sie dienen und sich sogar gegen die Demokratie aussprechen, obwohl wir doch hier in diesem Verein sind, um unsere demokratische Lebensform zu verteidigen. Hin und wieder erwähnt schon mal jemand den Namen des "Führers". Ja, damals war wirklich manches anders,  natürlich auch nicht alles schlecht. Während ich mich wegen meines zarten Alters in jener Zeit, zwischen Geburt 1942 und drittem Geburtstag gegen Kriegsende, an fast nichts erinnern kann, läuft hier jedoch noch eine ganze Menge von Leuten herum, die den zweiten Weltkrieg noch kennen müssten. Seitdem ich auf der Schreibstube arbeite, lerne ich viele Vorgesetzte als Menschen kennen. Davon haben vor allem die älteren oft ein Erinnerungsvermögen mit Lücken, was die schlechten Seiten der Hitlerjahre betrifft, etwa nach dem Motto: Es war ja doch gar nicht so schlecht, natürlich bis auf den Krieg. Und dann die Autobahnen…. . Apropos Demokratie: Ich bin jedenfalls sehr froh darüber, dass es heute keine Lager für Leute mehr gibt, die sich schlecht konzentrieren können.

 

Die Schreibstube ist der Verkehrsknotenpunkt der Batterie. Somit darf ich nichts ausplaudern, weder Persönliches noch Dienstliches. Das mach ich auch nicht, um mich nicht in Teufels (Spießes) Küche zu bringen.

 

Todendorf, 12. Juli

 

Ich berichte heute von der Seefahrt nach Kiel mit einem der fünf Minensuchboote der Marine. Wir starteten in Todendorf  mit drei Bundeswehr- Omnibussen. Nach einer knapp zweistündigen Fahrt durch das wellige Ostseehügelland erreichten wir die Anlegestelle Großenbrode. Dort verteilten wir uns auf fünf Minensuchboote von je 200 Tonnen. Bei recht angenehmem Wetter wurden die Schiffe klargemacht und wir stachen in See mit maximal 24 Knoten. Vor allem der Einblick ins Schiffsinnere war für mich sehr aufregend. Ich kletterte in den Maschinenraum, in dem ich vor Hitze und Krach fast vergangen wäre. Die Antriebswellen der drei Schiffsschrauben ließen den gesamten Raum erzittern. Es roch nach Diesel und anderen Ölarten, ein lauwarmer, fönartiger Wind  wehte aus den atmenden Maschinen. Anschließend betrat ich den Steuerraum, in dem mit wenigen Handgriffen an Hebeln und Schaltern die Maschinen gesteuert wurden. Ich war auch noch im Funk- und Navigationsraum zu Gast, in dem die Kursbestimmungen, Peilungen und Funkmessverrichtungen vorgenommen werden. Die meiste Zeit verbrachte ich jedoch an Deck und schaute den gewaltig schäumenden und sich hoch türmenden Wellen zu, welche die drei Schrauben des Bootes in Bewegung setzten. Dadurch wurde mir die Kraft der Maschinen recht deutlich vor Augen geführt. Um uns ein wenig mehr zu bieten, ließ man das Schiff bisweilen absichtlich schaukeln, um einen hohen Seegang zu simulieren. Vier Stunden verbrachten wir auf der Ostsee. In Kiel wurden wir dann von unseren Bussen empfangen und nach Todendorf zurück gefahren. Welch ein abwechslungsreicher Tag!

 

Am nächsten Dienstag werden wir voraussichtlich verladen, so dass wir einen Tag später wieder in die Kaserne zurückkehren können. Somit ist diese für mich erste große Übung schon fast vorbei.

 

Todendorf, 14. Juli

 

Bald werde ich wieder in Hannover sein. Hoffentlich erhalte ich am kommenden Wochenende ein "Verlängertes"! Nun liegt auch mein Jahresurlaub nicht mehr fern. Gleich schaltet der UvD das Licht aus, denn es ist schon nach Zehn.

 

Unsere Stube ist ein  Raum von etwa 15 mal 5 Meter. Der hintere Teil ist durch aneinander geschobene Spinde behelfsmäßig abgetrennt und stellt unser UvD- Zimmer dar. Soeben gehen hier zwei Kameraden zu Bett, die anderen sind noch draußen. Ich habe zwar auch ein "Nachtsichtzeichen", jedoch weiß ich wirklich nicht, was ich jetzt noch draußen tun soll. Jetzt fällt nur noch der Schein der Petroleumlampe auf mein Papier. Sehr stimmungsvoll, bis auf den Gestank. Ich nehme an, dies ist vorläufig der letzte Brief aus Todendorf. Im Dezember fahren wir vielleicht wieder hierhin. Dann wird es eine Menge trostloser in dieser Gegend sein.

 

Hannover- Flughafen, 17. Juli

 

Wieder zurück! Wir trafen heute Morgen gegen acht Uhr hier ein. Im Moment gibt es wieder viel zu tun: Sachen einräumen und instand setzen, jedoch haben wir dafür heute Nachmittag dienstfrei.

 

Heute Morgen habe ich die "Neuen" gesehen, wie sie im Laufschritt durch die Kaserne gehetzt wurden. Ja, man vergisst schnell, dass man vor kurzem selbst noch dabei war. Ich hoffe nun auf mein "Verlängertes" am Wochenende. Den Urlaubsschein habe ich schon ausgefüllt. Nun fehlt noch das Wichtigste: die Unterschrift vom Spieß. In der kommenden Woche habe ich Bereitschaft. Dann steht ein Urlaub natürlich nicht zur Diskussion.

 

Die Arbeit in der Kaserne läuft nur langsam an. Ich bin mal gespannt, wie es mir hier in der dritten Batterie gefällt. Am Freitag fährt der Spieß in Urlaub bis zum 20. August, so dass es hier ein wenig ruhiger zugehen wird.

 

Hannover- Flughafen, 14. August

 

Es geht mir gut, wenn ich mich auch erst wieder nach dem Urlaub hier einfinden musste. Aber ohne Spieß macht alles noch mal so viel Spaß. Dabei läuft alles so glatt ab wie sonst. Meine Erkennungsmarke habe ich endlich wieder gefunden. Sie lag auf dem Spind.

 

15. August

 

Heute habe ich die Fotos vom Jahresurlaub bekommen. Ich freue mich sehr über die neue Kamera. Die Ergebnisse sind hervorragend.

 

Ohne Spieß klappt hier alles wesentlich besser. Vieles geht einfacher. Mit unserem Feldwebel komme ich sehr gut aus. Ab nächste Woche Dienstag geht es hier wieder rund. Dann bin ich mit meinem Stubenkameraden Aschemann und dem Spieß allein auf der Schreibstube. Da der Hauptfeldwebel kaum Ahnung vom Schriftverkehr hat und Feldwebel Balzer und Gefreiter Reinhardt in Urlaub sind, wird so manches auf uns hängen bleiben. Wir rechnen mit einigen Überstunden. Übrigens steht in unserem Unterrichtsraum ein Klavier, auf dem ich gestern so einige Späße machte.

 

1964 ist ein Schaltjahr. Ich muss also meiner Wehrpflicht einen Tag länger genügen. Eine Anerkennung dafür wird es nicht geben.

 

19. August

 

Morgen kommt der Spieß zurück. Heute geht es mir noch immer gut!

 

25. August

 

Ich habe Bereitschaft! Was ist los? Nichts ist los! Zweimal am Tag müssen wir unten vor dem UvD- Zimmer antreten. Dort werden wir auf Vollzähligkeit überprüft. Die Kantine hat zu. Sollte ich am nächsten Wochenende nach Hause kommen, werde ich mein Fahrrad dort bei der Bahn aufgeben. Mein Fahrrad hier oben in der flachen Gegend wäre nicht schlecht. In der letzten Zeit habe ich kaum noch Bewegung gehabt, da ich nur noch herumsitze. Die kleinen Gänge zum Stab zählen ja wohl nicht. Aber das kann bald wieder anders werden. Wir haben für Anfang Oktober einen neuen Schreiber angefordert. Weihnachten wird nämlich einer entlassen und der Neue soll sich wohl rechtzeitig einarbeiten. Gleichzeitig könnte der Spieß aber auch immer einen von uns Außendienst mitmachen lassen, gerade wie es ihm einfällt. Aber das sind nur Vermutungen. Ich soll wahrscheinlich die Vorschriftenstelle übernehmen. Gleich werde ich noch zwei Hemden waschen und eine Hose aufbügeln. So vergeht dieses Wochenende und ich bin froh, wenn es vorüber ist.

 

Hannover- Flughafen, den 26. August  1963

 

Heute haben wir in der Schreibstube einen getrunken. Erst schmiss ich eine Runde, da ich ja bald zum Gefreiten befördert werden soll, dann der Spieß. Er scheint zurzeit eine weiche Welle mit uns einschlagen zu wollen. Was er damit wohl bezwecken will? Im Moment ist hier in der Batterie nicht viel los. Es ist Urlaubszeit. Viele Soldaten sind im Jahresurlaub, etwa 45 Mann, und wir sind in der Kaserne so schwach vertreten, dass vorübergehend nur noch zwei statt drei Bereitschaftsgruppen aufgestellt werden, so dass ich nun alle zwei Wochen Bereitschaft habe. Ob ich am kommenden Wochenende nach Hause kommen kann, wird somit recht fraglich. Wir müssen wohl von Freitag auf Samstag eine Wache stellen und auch noch andere Posten müssen besetzt werden wie der "Gefreite vom Dienst".

 

27. August

 

Betreff:       Vorankündigung meines Besuchs am kommenden Wochenende

hier:           Kanonier Hoffmann

 

Vorgang:     Mein letztes Schreiben vom 26.08.63

 

Anlage:       ohne

 

Hiermit teilt Kanonier Klaus Hoffmann mit, dass er heute bei der Diensteinteilung für das kommende Wochenende nicht verplant wurde, so dass eine Anreise zur Heimat am kommenden Wochenende für wahrscheinlich gehalten werden kann. Über den endgültigen Sachverhalt gibt o.a. Person noch rechtzeitig telefonische Auskunft.

 

i.A. (Unterschrift)

 

Ich glaube, mein dienstlicher Schreibstil färbt allmählich auf meine privaten Texte ab.

 

7. September

 

Schon ist wieder Samstag. Die Woche verging wie im Fluge. Erneut habe ich Bereitschaft, wahrscheinlich bis zum 19. September. Morgen kommt unser dritter Schreibstubenbulle aus dem Urlaub zurück. Mein Rad steht unten im Keller und wartet auf die Montage, die ich heute noch vornehmen werde. Trotz meines Dienstes durfte ich mit Genehmigung vom Spieß am Donnerstag zu einem Fahrradladen in Langenhagen fahren. Da der Hauptfeldwebel in Langenhagen wohnt und sein Rad immer bei sich hat, fuhren wir beide zusammen. Ich kaufte mir eine neue Kette und Putzzeug. Es könnte hier ja mal einen Fahrradappell geben.

 

Ich tauschte nun endlich meine Stiefel. Ich hoffe, in den neuen besser laufen zu können.

 

11. September

 

Heute ist meine alte Bereitschaft abgelaufen und die neue hat schon angefangen. Auch mein Rad steht unten im Keller bereit und wartet auf die erste größere Tour. Da kann man nichts machen, dabei ist das Wetter so schön. Aber es geht auf den Herbst zu. Nachts ist es schon lausig kalt, die Kastanien verlieren bereits ihre Blätter. Je eher, desto besser. Wenn sich die Blätter  im nächsten Jahr erneut verfärben, habe ich nur noch 17 Tage. Nun muss sich die Erde noch einmal komplett um die Sonne drehen. So lange werde ich weiterhin kaum dort sein, wo du nicht bist, Bundeswehr.

 

Die Urlauber sind inzwischen fast alle zurückgekehrt, so dass wir wieder volle Dienststärke besitzen. Außer einigen Sportstunden habe ich keinen Außendienst leisten müssen. Zeitweise gibt es viel zu tun auf unserem Geschäftszimmer, so dass jeder dort unentbehrlich ist. In knapp drei Wochen werden hier 45 Mann entlassen. Ihr könnt euch sicher gut vorstellen, welche Stimmung unter diesen Leuten herrscht. Kennt ihr schon den Unterschied zwischen Schreibstube und Gelände?

 

Im Gelände heißt es: Sauf ich so, weil ich so schwitze. Auf der Schreibstube sagt man das gleiche, nur anderes herum: Schwitze ich so, weil ich so saufe. Kleiner Scherz natürlich,

 

13. September

 

Nach fast einer weiteren Woche steht mir erneut ein einsames Wochenende bevor. Am kommenden Mittwoch hört meine Bereitschaft endlich auf, so dass ich mal wieder aus der Kaserne kann. Wir haben hier oben in der letzten Zeit herrliches Wetter. Ich bedaure sehr, es nicht ausnutzen zu können. Neues gibt es noch nicht zu berichten. Das wird sich wohl ändern, wenn die neuen Rekruten bei uns eingestellt werden und der Infantrismus wieder auflebt und wenn es die ersten Alarme gibt. Der NATO- Alarm liegt auch nicht mehr fern. Die nächste größere Übung findet erst kurz vor Weihnachten in Bergen Hohne statt. Nach Todendorf geht es wohl erst wieder Anfang nächsten Jahres.

 

Manchmal ist hier im Geschäftszimmer ein unheimlicher Betrieb, so dass man die Nerven behalten muss, um nicht "abzuschnallen", wie es hier so schön heißt. Heute ist übrigens meine Ausbildungskompanie 4/1 ins  Übungsgelände nach Ehra Lessin gefahren. Vor einem viertel Jahr war ich noch dabei. Ein Stubenkamerad, der vor Weihnachten entlassen wird, zählt nun bereits seine Tage. Ich mache das lieber noch nicht.

 

25. September

 

Heute war Heeressporttag. Er dauerte von 8 bis 13 Uhr. Neben Kugelstoßen und Weitsprung gab es noch allerlei andere Leckerbissen wie 100 Meter- Lauf und als Krönung den über 5000 Meter. Es gab für mich einfach kein Kneifen und Klagen. Auch ich als Unsportler musste laufen. Ich lief auch und nahm mir dafür die entsprechende Zeit. Somit sah man mich nicht ein einziges Mal gehen. Ich bewältigte die Strecke, wenn auch abschnittsweise recht langsam, mit Erfolg. Als unabdingbar hatte ich mir vorgenommen, das Ziel des Laufes auf jeden Fall noch vor meiner Entlassung zu erreichen. Besser als erwartet, kann man da nur sagen. Bei dieser Wertung könnte ich sogar bei der "Tour de France" mitmachen: Besser als erwartet.

 

Übrigens hat man mich sogar eine Runde zuviel laufen lassen. Ich schaffte somit 5400 Meter! Das ist die Luftlinie zwischen Solingen und Remscheid! Nach der Überwindung der vierten und fünften "sauren" Runden hatte ich mich allmählich an das Laufen gewöhnt  und fühlte mich wieder besser und stärker. Ich konnte zwar keine Lorbeeren ernten, hatte jedoch von allen Soldaten die längste Strecke bewältigt, wie gesagt: besser als erwartet.

 

Morgen nehme ich an einer Formalausbildungsübung im Bataillon teil, die dort zum Zwecke der Verabschiedung eines Generals abgehalten wird. Es handelt sich genauer gesagt um eine Art repräsentativer Ehrenbezeugung, die eingeübt werden muss. Somit habe ich Gelegenheit, noch einmal meine "Braut" zu sehen und zu tragen, ebenso meine "Rundschnittmatrize", sprich Stahlhelm.

 

1. Oktober

 

Die Zeit zu schreiben wird ein wenig knapp. Dies ist in den zahlreichen Feiern begründet, zu denen uns die zur Entlassung stehenden Reservisten einladen. Hinzu kommt der Wachdienst am Wochenende.

 

Heute Abend findet auf unserer Stube eine große Doppelfeier statt. Ein Kamerad begeht seinen Geburtstag und ich als ehemaliger Kanonier muss einen auf meine Beförderung zum Gefreiten ausgeben. Unser Schreibstubenfeldwebel (BttrTrpFhr) und unser Leutnant (Lt und ErkOffz) werden wahrscheinlich auch dabei sein. Auf jeden Fall haben wir 25 Flaschen Bier kaltgestellt, welchem Getränk, so meine Beobachtungen, Unteroffiziers- und Offiziersdienstgrade in gleichem Maße, bisweilen Litermaße, zusprechen. Für jenes Unterfangen haben wir uns eine Sondergenehmigung vom Batteriechef Hauptmann Ignée eingeholt, denn laut Batteriebefehl darf sonst auf den Stuben kein Alkohol getrunken werden.

 

Heute wurde übrigens der Divisionskommandeur der ersten Panzergrenadierdivision, zu der unser Flugabwehrbataillon gehört, in Hannover Bothfeld verabschiedet. An dem Ehrenzug von tausenden von Soldaten nahm auch ich teil. Ich schrieb ja bereits über unsere Vorbereitungen in der Formalausbildung. So bin ich in den vergangenen Tagen wieder so manchen Kilometer marschiert. In meinen neuen Stiefeln habe ich auch noch keine Beschwerden verspürt.

 

 

2. Oktober

 

Es ist nun wirklich wahr: Ich bin Gefreiter! Heute Mittag wurde dies vor der gesamten Batterie bekannt gegeben. Erst danach durfte ich die üblichen Balken auf meine Anzüge nähen lassen. Nun liegen sechs Monate hinter mir und ich erhalte ab sofort etwas mehr Wehrsold. Der einzige, der mir nicht gratuliert hat, ist der Spieß. Das festigt unsere "Freundschaft". Ich schrieb damals eine Charakterstudie über meinen Vorgesetzten, meinen Hauptfeldwebel Wilhelm Bartsch. Ein interessanter Mensch. Doch ich halte mich auch jetzt an zwei Dinge: keine Schilderungen privat- intimer oder geheim- dienstlicher Art und sowieso: "de mortuis nil nise bene".

 

Gestern Abend feierten wir auf unserer Stube feucht-fröhlich. Unser Feldwebel Balzer war dabei und gegen 22 Uhr traf auch noch unser Leutnant Vilette ein. Ich war an diesem Abend in Form wie noch nie. Ich erzählte die tollsten Witze. Vilette krähte vor Lachen und Balzer konnte einfach nicht mehr vor lauter Schmerzen im Zwerchfell. Solch eine Bombenstimmung im Frieden habe ich noch nie mitgemacht. Es ging Schlag auf Schlag. Vilette sagte mehrmals: "Hoffmann, wo haben Sie das eigentlich alles her? Sie hören ja überhaupt nicht mehr auf". Leutnant Vilette hat mir eine Show auf unserem nächsten Batterieabend, wahrscheinlich in Todendorf, zugesagt. "Der Saal tobt, wenn Sie auftreten", bemerkte er. Nun hat man mich auch einmal von dieser Seite kennen gelernt.

 

Heute sah es schon wieder etwas anders aus. Ich hatte einen schweren Kopf. Der Spieß bemerkte dies wohl und meckerte besonders viel an allem herum. Bei der G 1 - Meldung machte ich einen unverzeihlichen Fehler. Die gesamte Batterie ist wegen zahlreicher Neueinstellungen und Entlassungen ziemlich umgekrempelt worden. Das macht den Spieß total nervös und kopflos. So sucht er bei Untergebenen seine Opfer und lässt dort seinen Dampf ab. Ich kann nur sagen, dass ich hier manches erdulden muss. Unser Geschäftzimmer ähnelt bisweilen einem hektischen Jahrmarkt. Ständig tauchen neue Leute auf oder mehrmals hintereinander immer dieselben. Es wechseln Fragen, Antworten, Meldungen und Feststellungen jeglicher Art einander ab. Tür auf, Tür zu! Bei dummen Fragen wird der Ton vom Spieß immer lauter, seine Antworten bleiben dabei nicht bei der angesprochenen Thematik, sondern erfahren eine enorme Erweiterung auf Dinge, die den Fragenden erfahren lassen, dass er selbst als Person noch viel dümmer ist als seine Eingangsfrage. Welch ein jämmerlicher "Bürger in Uniform". Welch ein Krach! Da soll man sich nun auf seine Arbeit konzentrieren. Ich bin abends manchmal vollkommen durchgedreht. Aber ich sage mir: Die Gegenwart erfordert Härte, die Vergangenheit gibt Ruhe und die Zukunft verlangt Phantasie. Man setzt mir hier Leute vor. Es sind also Vorgesetzte. Diese sagen mir, was ich tun oder unterlassen soll. Was ich in neuen Jahren auf dem Gymnasium gelernt habe, interessiert hier keinen. Hier laufe ich als Schablone herum, bin eine Nummer, eine PK- Ziffer.

 

Es gibt sie auch unter den Soldaten: prima Menschen, die Mensch bleiben wollen. Man kann wohl kaum woanders Schwächen, Eigenschaften - seien sie gut oder schlecht - oder die berühmte menschliche Unvollkommenheit so gut studieren wie beim Kommis. Nirgendwo sonst sieht man den Menschen so facettenreich. Unser Spieß hat sogar Facettenaugen.

 

3. Oktober

 

Der erste Wachdienst am vergangenen Wochenende war recht erlebnisreich. Ich hatte keine Kasernenwache, sondern die Aufsicht am Munitionsdepot. Dauer: 24 Stunden von Samstag 18 Uhr bis Sonntag. Wir waren zu sechs Mann. Nachts mussten je drei draußen Wache schieben, tagsüber nur je zwei. So wurde ich nachts nach zwei Stunden abgelöst, konnte dann zwei Stunden schlafen und musste nach dieser Pause wieder für zwei Stunden an die frische Luft. So verbrachte ich die Nacht zu Sonntag volle sechs Stunden draußen auf einsamem Posten fern von der Kaserne, dort wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Der Himmel klarte auf und es wurde richtig kalt. Aber jetzt konnte ich den Sternenhimmel beobachten. Ich sah den Mond auf- und unter gehen. Ich bemerkte, wie sich die Fixsterne alle um den  Polarstern drehten. Ich beobachtete die Planeten Jupiter und Saturn bis zu ihrem Untergang. Beide waren  zusammen mit dem Mond am Himmel, ein tolles Schauspiel. Ich zählte acht Sternschnuppen, erblickte den Orion und das Siebengestirn (Plejaden). Dabei vergaß ich die Außentemperatur von nur 5 Grad. Man friert nämlich ganz schön, wenn man aus dem warmen Schlafsack wieder nach draußen an die frische Luft gesetzt wird.

 

Ich sah wohl recht gefährlich aus: In meinem Gewehr befanden sich fünf Schuss scharfe Munition. Davon darf man aber nur unter Notwehrbedingungen Gebrauch machen. Am Sonntag stand ich nochmals insgesamt vier Stunden herum. Es hat nach dieser wundervollen klaren Nacht fürchterlich geregnet und gestürmt.

 

Mit einer kleinen Gruppe besuchten wir den niedersächsischen Landtag. Zudem erfuhr ich manches Wissenswerte über das Leineschloss. Das Präsidium und einige Abgeordnete des Landtages stellten sich der Bundeswehr und der Polizei zur Diskussion. Im Abgeordnetensaal waren Bereitschaftspolizisten aus Hannover und Braunschweig, ebenso Bundeswehrsoldaten aus Langenhagen und Umgebung. Wir erfuhren manches über den Landtag. Zu manchen Problemen wurde recht kritisch Stellung bezogen. So kam das Thema "Erziehung und Bildung" innerhalb der Bundeswehr und der Polizei ausgiebig zur Sprache. Die Verantwortung der Eltern für die Erziehung ihrer Kinder wurde ausdrücklich betont - und dies ist bis heute so geblieben. So sei auch die Bundeswehr keine Erziehungsanstalt, sondern könne höchstens auf dem aufbauen, was eigentlich an Erziehung schon vorhanden sein müsste. Weiterhin wurde das Thema "Wohnungen für Unteroffiziere" detailliert abgehandelt.

Es war zu begrüßen, dass der Landtag sich für das Erziehungswesen sehr einsetzte und versprach, in Zukunft weiterhin viel - sei es durch den Neubau oder Ausbau von Schulen oder andere Maßnahmen - auf diesem Gebiete zu verbessern, um hierdurch bessere Voraussetzungen für die Entwicklung verantwortungsbewusster Staatsbürger zu schaffen. Dazu gehöre natürlich auch der Staatsbürger in Uniform.

 

Über lange Zeit bin ich nicht mehr so zum Denken angeregt worden. Am Samstag bin ich "Gefreiter vom Dienst" (GvD). Am Sonntagabend beginnt eine vier- bis sechstägige Übung "Nordlicht". Zwei Schreiber machen diese Übung mit, Aschemann und Reinhard. Ich bleibe als Nachkommando in der Kaserne. Der Hauptfeldwebel fährt auch mit samt seiner gelben Schnur. Ein paar ruhige Tage stehen mir also bevor. Wegen "guter Führung" hoffe ich auf meine Entlassung in einem Jahr.

 

7. Oktober

 

Es ist 23 Uhr. Ich sitze auf dem UvD- Zimmer. Es ist weit und breit kein Laut zu hören. Ich bin der einzige, der im großen Block noch wach ist. Ich habe die Funktion des U.v.D. übernommen. Um halb Zehn ließ ich die Revierdienste antreten und danach machte ich die Stubendurchgänge. Bis Mitternacht muss ich noch wach bleiben. Morgen um 5 Uhr heißt es die ersten Leute zu wecken. Kurz vor Mitternacht habe ich nochmals den gesamten Block kontrolliert, Türen verschlossen und Lichter gelöscht. Der größte Teil der Batterie ist zurzeit auf der Übung  "Nordlicht". Zurückgeblieben sind die Fahrschüler, vornehmlich neue Rekruten, und ein paar "alte Hasen". Der Offizier vom Block ist zu Hause in Langenhagen. Gestern Abend rückte hier das gesamte Bataillon aus. Den Betrieb und die Geschäftigkeit könnt ihr euch kaum vorstellen.

 

Mein Stubendurchgang war natürlich sehr weich. Obwohl die Stuben zum Teil nicht sauber waren, habe ich kein Theater gemacht. Mir liegt es eben nicht, Leute "anzuscheißen", zumal ich erst ein Viertel Jahr länger hier bin als sie. Außerdem fällt es mir schwer, in gewissen Situationen ernst zu bleiben. Jedoch mehr oder wenig zackig machten die Stubendienste ihre Meldung. Das war etwas ungewohnt für mich, vor mir stramm zu stehen. Morgen früh geht es aber rund. Da werde ich alle aus dem Bett schmeißen. Da unsere restlichen Kameraden auf den Beinen sind, und dazu noch draußen irgendwo in der Kälte, kenne ich kein Pardon. Gerechtigkeit muss sein. Aber ich erledige alles mit Humor und meine Kameraden verstehen mich so auch viel besser. Wenn mal wirklich einer quer schießt, dann kann auch ich böse werden. Auch die Gutmütigkeit hat ihre Grenzen. Aber bislang habe ich noch keinen Gebrauch von der "Macht" auf Grund meiner Dienststellung machen müssen. Viele Kameraden tun mir leid, da ich in ihnen mein Spiegelbild sehe.

 

Im Januar und Februar geht es voraussichtlich wieder nach Todendorf.  Hoffentlich wird der Winter nicht so hart wie im vergangenen Jahr. Da sind nämlich bei einigen Soldaten die Ohren am Stahlhelm festgefroren.

 

 

17. Oktober

 

Gestern Abend war ich mit einem Stubenkameraden in Hannover. Wir sahen uns den Film "Faust" mit Gustav Gründgens an. Prädikat "besonders wertvoll", eine Seltenheit in der Dienstzeit, dass etwas so wertvoll ist. Ich durfte einmal ausnahmsweise dort sein, wo du nicht bist, Wehrmacht. Und dann auch noch in Überlänge.

Wahrscheinlich werde ich mir am Samstagabend im Theater am Aegi "Das Land des Lächelns" ansehen, denn ich benötige noch Anregungen für Kapitelüberschriften dieser Dokumentation. Die bereitschaftsfreie Zeit muss man einfach ausnutzen und dabei lächeln.

 

 

Langenhagen/Hannover, 19. Oktober 1963

 

Gestern am Freitag um 13.46 Uhr wurde vom NATO- Hauptquartier in Paris ein Alarm ausgelöst, der sämtliche Streitkräfte in Europa betraf. Übungsalarme dieser Art treten in der Regel zweimal im Jahr auf. Der letzte war im Mai. Das Fla Bataillion 1 war in ungefähr zwei Stunden zum Ausrücken bereit. Es ging darum, möglichst schnell in den Stellungsraum zu kommen. Deshalb wurden auch nicht alle Ausrüstungsgegenstände verpackt. Nur große und kleine Kampftasche sowie der Rucksack  mussten laut Alarmanweisung hergerichtet werden. Das Privatzeug blieb im Spind. Nach zwei Stunden rollten die ersten Fahrzeuge aus der Kaserne, dahinter folgten die Panzer. So donnerte am späten Nachmittag eine endlose Reihe von Rad- und Kettenfahrzeugen in Richtung Trompeterberg, etwa 25 Kilometer von hier entfernt. In abgelegenen Wäldern hielten dort die Fahrzeuge unserer Batterie an. Sie wurden zwischen die Bäume gefahren und getarnt. Nach einer Stunde brach völlige Dunkelheit ein. Dann erreichten mit unvorstellbarem Getöse auch unsere Panzer den Stellungsraum und donnerten über die Waldwege, dass die Bäume erzitterten. Wir warteten nun eine Stunde in absoluter Waldesstille, bis das Ende des Alarms bekannt gegeben wurde. Dann fuhr unser Konvoi wieder in Richtung Kaserne zurück. Es ging über Morasthalden und Schlaglöcher, eine richtige Geländefahrt in stockdunkler Nacht. In der Kaserne wurde wieder alles abgeladen, der Schreibstubenwagen geleert und alles, was wie eine Waffe aussah, abgegeben. In acht Stunden hatte es nicht eine einzige arbeitsfrei Minute gegeben. Der Zapfenstreich wurde auf 23 Uhr verlegt. Wir hatten noch am Freitagmittag unsere Spinde für den Stubendurchgang fertig gemacht. Umsonst!

 

Besonders betroffen sahen jedoch diejenigen Soldaten aus, die ins verlängerte Wochenende fahren wollten. Einige reisten erst sieben Stunde später ab, doch die meisten Rheinländer blieben gleich hier, weil es sich für sie kaum noch lohnte, mit dieser Verspätung zu starten. Noch einen weiteren NATO- Alarm werde ich wohl in meiner Dienstzeit noch mitmachen dürfen.

 

Wie heute bekannt wurde, findet unsere nächste Übung Anfang November statt. Sie dauert jedoch nur zwei bis drei Tage. Wenn unser Bereitschaftsplan regelmäßig weiterläuft, so hat der erste Zug Weihnachten 1963 keine Bereitschaft. Somit werde ich das Fest wahrscheinlich zu Hause feiern können.

 

Was mache ich nun an diesem Wochenende, nachdem es keinen Krieg gab? Ich schreibe Briefe (mal was Neues) und fahre nach Hannover zu Film und Operette.

 

Nach meinem "Bergfest" beginnt ab 1. Januar 1964 das Zählen meiner Tage. Es werden dann noch 272 sein.

 

20. Oktober

 

Gestern Abend besuchte ich die Operette "Das Land des Lächelns" von Franz Lehar. Ein wahrer Genuss für mich! Romantik in Vollendung - Fernweh, Heimweh: das ging auch mich etwas an. "Niemand liebt dich so wie ich…... dein ist mein ganzes Herz, wo du nicht bist, kann ich nicht sein…..Immer nur lächeln…..trotz tausend Weh und tausend Schmerzen…..doch wie´ s da drin aussieht, geht niemand was an". Für meine Lage hier beim Kommis gilt eher: "Niemand liebt dich? Wieso ich? Wo du nicht bist, darf ich kaum sein. Und wie´ s im Spind aussieht, geht niemand was an!"

 

24. Oktober

 

Nächste Woche, wahrscheinlich in der Nacht zu Dienstag, findet hier ein Batterie- Alarm statt. Als Stabsdienstsoldat hört man nun einmal mehr von erster Quelle als die anderen. Abends erhebt sich regelmäßig ein wahrer Telefoniersturm. Vornehmlich die Soldaten der Ausbildungskompanie 4/1 bilden eine Schlange vor dem Telefonhäuschen. In der ersten Zeit ihres Dienstes empfinden sie die Trennung von ihrer Liebsten natürlich noch schmerzvoller als länger gediente Soldaten. "Jetzt kommen die lustigen Tage, Schätzel ade. Und dass ich es dir noch sage, es tut mir gar nicht weh!" Wie gesagt: Immer nur lächeln.

 

 

25. Oktober

 

Jeder Soldat freut sich, wenn er von zu Hause ein Paket bekommt, danke! Allmählich geht es auf den Winter zu und der Körper benötigt mehr Kalorien, um sein Übergewicht nicht zu verlieren. Der November naht. Vor zwei Jahren schrieb ich zu diesem Monat folgendes Gedicht:

 

Verschlossen sind des Himmels Pforten,

der Sonne Strahl erhofft nichts mehr

und Tränen tropfen allerorten

von Zweigen, Gräsern, satt und schwer.

 

Nebel schleichen durch die Gassen,

umweben der Laterne Licht,

das sich auf öden, nassen Straßen

in schauderhaften Streifen bricht.

 

Des Herbstes Fülle liegt danieder,

nass erglänzt sein Moderkleid.

Sanft ertönen Klagelieder,

entschwunden ist die Sommerzeit.

 

Entschwunden, windverweht im Staube,

Herzensträume, Liebesglück.

Mit fahlem, todgeweihtem Laube

Bleibt nur Erinnerung zurück.

 

Verschlossen sind des Himmels Pforten,

Nebelschwaden rings umher.

Und Tränen tropfen allerorten

von Zweigen, Gräsern, satt und schwer.

 

So empfand ich also den November vor zwei Jahren im Alter von Neunzehn. Hier bei der Bundeswehr bestätigt sich manche frühere Empfindung, wenn ich morgens durch zähen Nebel zum Essenssaal gehe. Ich würde jedoch die letzte Strophe etwas abändern:

 

Verschlossen der Kantine Türen,

vom Offz- Kasino tönt es her.

Und täglich neue Spieß- Allüren.

Ich hab es manchmal satt und schwer.

 

27. Oktober 1963

 

Manchmal wird diese "Haft"  für mich hier unerträglich. Neben dem Schreiben sehe ich hin und wieder fern oder höre Radio. Es wird einem zudem recht schwer gemacht, sich um Mädchen zu kümmern. Man lernt ja keins kennen. So wende ich mich von hier aus schon einmal schriftlich an mir bereits vor der Dienstzeit bekannte weibliche Wesen. Heute habe ich zum Beispiel einen Brief an Dagmar geschrieben. Wie ´s darin aussieht, geht mich diesmal doch etwas an (Lehar widersprechend).Vielleicht sagt Dagmar aber: Wie ´s bei mir aussieht, geht dich nichts an. Mal sehen.

 

Nächste Woche fahren wir zwei bis drei Tage auf Übung. Ich freue mich schon. Nun muss ich erst einmal meine Appellsachen fertig machen und meine Hosen bügeln.

Langenhagen, Boelcke Kaserne, 15. November

 

Die Schreibpausen können nun bisweilen etwas größer werden, da ich meine Erlebnisse ja inzwischen auch per Tonbandbrief übermittle.

 

Heute habe ich den ersten Flug meines Lebens hinter mich gebracht. Es ist wirklich etwas Faszinierendes, die Welt von oben aus der Vogelperspektive zu sehen. Die "Nor-Atlas" ist zwar recht schwerfällig und kaum schallisoliert. Eine Unterhaltung während des Fluges hat kaum eine Chance zustande zu kommen. Eine der wenigen Situationen, in denen ich das Schreien beim Kommis akzeptiere.

 

Man hat mich schon angesprochen, ob ich für meine Kameraden nicht etwas Weihnachtliches vorbereiten kann. Dass ich es auch möchte, wird vorausgesetzt. Notfalls wird es einfach befohlen.

 

26. November

 

Für mich ist die Eisenbahn seit April dieses Jahres zur Metapher von Heimat und Ferne, von Freude, Abschied und Ankunft geworden. Deshalb haben mich die Berichte von dem schweren Zugunglück bei Hannover besonders bewegt. Es passierte auf der Strecke, auf  der ich seit dem ersten April stets unterwegs war, wenn ich nach Solingen fuhr. Ich kenne den Bahnhof Leinhausen, ich kenne Seelze. Auch sind mir die dortigen Bauarbeiten bekannt. Es gab fünf Tote und zahlreiche Verletzte. Die Hannoversche Presse widmete diesem Ereignis eine Sonderausgabe mit vielen Bildern. Dieses schwere Unglück ereignete sich kurz nach den Meldungen über die Ermordung von John F. Kennedy, die uns alle erschüttert haben.

 

Allmählich muss ich mich nun um die Weihnachtsfeier kümmern. Ich soll doch tatsächlich die Soldaten und einige Leute aus dem Altersheim in humorvoller Weise als Weihnachtsmann verkleidet beschenken. Das wird ein Gaudi. Für die Feier benötige ich ein Glockengeläute des Kölner Doms vom Tonband. Man hat mir auch die organisatorische Leitung der Weihnachtsfeier übertragen. Ich habe heute mir dem Batteriechef, Hauptmann Ignée, ein Konzept entworfen. Nächste Woche werde ich zum Leiter des Altersheimes gehen und mit ihm über diejenigen Älteren sprechen, die an unserer Feier teilnehmen. Ich muss schließlich etwas über ihre Eigenarten wissen, um bei der Bescherung als "böser" oder "lieber" Weihnachtsmann die treffenden Kommentare abgeben zu können. Bei meinen Kameraden wird mir dies wohl kaum schwer fallen. Alles soll aber ohne Waffenpräsentation stattfinden. Man rechnet offenbar mit keiner Notwehrsituation.

 

Bald erreiche ich die 300- Tage- Grenze. In wenigen Wochen wird ein Stubenkamerad entlassen, unser Helmut Reinhard. Er ist schon längst nicht mehr mit seinen Gedanken hier. Ich beneide ihn. Er hat zwei Jahre hier durchgehalten. Geht doch! Er nimmt es nun wörtlich.

 

 

3. Dezember

 

Advent, Advent! Ein Paket kam an! Danke! Passend dazu haben wir unsere Stube etwas festlich geschmückt, wenn schon ohne Lametta am Revers, dann eben im Fichtenzweig. Gestern Abend hatten wir eine kleine Geburtstagsfeier. Helmut wurde 22 Jahre.

 

Wie im täglichen Leben gibt es auch hier in der Kaserne Augenblicke, in denen längst vergangene Erlebnisse in traumhaft verklärter Gestalt an unseren Augen vorüberziehen. Je erhabener und eigentümlicher solche Erlebnisse einst waren, desto nachhaltiger und wirksamer lebt die Erinnerung in uns, die oftmals im Stande ist, einen so sehr zu bewegen, dass sie gegenwärtigem Tun und Denken neuen Antrieb und neue Richtung gibt.

 

"Das alles vorüber sterbe,

ist alt und allbekannt,

doch diese Wehmut, die herbe,

hat niemand je gebannt."

 

In meiner "Traumhaft" denke ich vor dem Einschlafen an Eichendorffs Zeilen:

 

"Nacht ist wie ein stilles Meer,

Lust und Leid und Liebesklagen

kommen so verworren her

in dem linden Wellenschlagen.

Wünsche wie die Wolken sind,

gleiten durch die stillen Räume.

Wer erkennt im lauen Wind

ob´ s Gedanken oder Träume?

Schließ ich nun auch Herz und Mund,

die so gern den Sternen klagen,

leise doch im Hintergrund

bleibt das linde Wellenschlagen." 

 

Eichendorff kannte die 3. Batterie in der Boelcke- Kaserne in Hannover/Langenhagen am Hannover/Flughafen nicht. Deshalb beende ich meine Gedanken mit den Zeilen:

 

Schließt der Spieß auch Herz und Mund,

worüber wir uns oft beklagen,

leise doch im Hintergrund

bleibt der Wunsch, ihn mal zu schlagen.

 

4. Dezember

 

Morgen Abend ist Alarm angesagt. Da heißt es: den gesamten Spind leer räumen und alles verpacken. Die Uhrzeit ist noch geheim. In der nächsten Woche sind wir zwei Tage draußen im Gelände. Unsere Weihnachtsfeier soll am 18. Dezember stattfinden.

 

Vor mir liegen jetzt noch 297 Tage. Mein Kamerad Helmut hat nur noch 18.

 

Glaubt nicht, dass ich meinen privaten Schreibstil auf meine dienstlichen Schreiben übertragen dürfte. Hier etwas über Art, Form und Inhalt dienstlicher Schreiben:

 

Auf gutes Deutsch ist zu achten (deshalb hat mich der Spieß auch eingestellt). Fremdwörter sind nach Möglichkeit zu vermeiden. Was gesagt wird, soll klar, erschöpfend und so kurz wie möglich und übersichtlich gegliedert sein. (Wie schon mal gesagt: Statt "Nun muss sich alles, alles wenden (Ludwig Uhland) heißt es hier einfach "Kehrt!")

 

Kurze Schreiben erhalten regelmäßig keine Unterteilung durch Buchstaben. Bei Schreiben, die mehrfacher Unterteilung bedürfen, sind Ordnungszahlen zu verwenden. Reicht die Unterteilung nicht aus, so sind die Unterabschnitte mir kleinen Buchstaben und Klammern zu versehen. Bei noch weiterer Unterteilung sind Buchstaben, römische Zahlen, arabische Zahlen, kleine Buchstaben….

 

Abkürzungen sind nach Möglichkeit zu vermeiden (wie im Gelände). Im Falle ihrer Anwendung sind die Abkürzungen maßgebend, die in den Stärke- und Ausrüstungsnachweisungen sowie in den Dienstvorschriften festgelegt sind. Darüber hinaus können für Worte und Begriffe weitere allgemein verständliche Abkürzungen verwendet werden. Die dürfen jedoch keinen Zweifel an ihrer Bedeutung aufkommen lassen. In längeren Abhandlungen, Berichten usw. können häufig wiederkehrende Ausdrücke und Namen abgekürzt werden, wenn sie im jeweiligen Schriftstück bei erstmaliger Verwendung ausgeschrieben sind und die Kürzung in Klammern daneben steht.

 

Auf sparsamen Papierverbrauch ist zu achten (wie z.B. auch auf den Toiletten, was vielen nicht schwer fällt). Soweit die Lesbarkeit nicht beeinträchtigt wird, soll die Rückseite eines Blattes ebenfalls beschrieben werden (auf den Toiletten nur im Ernstfall). Es sind DIN - Formate zu verwenden.

 

Dienstschreiben sind Schreiben dienstlichen Inhalts (ach was!). Sie werden von einer militärischen Dienststelle verfügt und abgesendet.

 

Privatdienstschreiben sind Privatschreiben dienstlichen Inhalts, die in privater Angelegenheit statt an die Dienststelle an den Stelleninhaber persönlich gerichtet sind. Privatschreiben sind Schreiben eines Soldaten, die seine persönliche Haltung zum Ausdruck bringen oder eine persönliche Mitteilung enthalten und unabhängig von der Dienststelle sind, die der Soldat innehat. Sie dürfen nur mit Zustimmung des Absenders und des Empfängers dienstlich verwendet werden oder dritten Personen zugänglich gemacht werden. Die Zustimmung kann sich auch aus dem Zweck und dem Inhalt des Schreibens ergeben. 

 

Schreiben an vorgesetzte Stellen sind Berichte, Meldungen, Anträge, Gesuche und ä. an vorgesetzte Dienststellen. Dabei ist es nicht erforderlich, dass sie als solche bezeichnet werden. Schreiben von vorgesetzten Stellen sind Schreiben vorgesetzter Stellen. ……. (Es geht noch weiter, aber bereits jetzt herrscht schon genügend Klarheit, oder?)

 

6. Dezember

 

Helmut Geburtstagsfeier gestaltete sich recht lustig. Außer meinen Stubenkameraden gratulierten noch unser Geschäftszimmer- Feldwebel Balzer, der U.v.D. Uffz Habel und sogar der O.v.K. Stabsunteroffizier Jürgens.

 

Gestern Abend war unser Alarm. Für uns Leute auf der Schreibstube kam er natürlich nicht wie für die anderen aus heiterem Himmel. Welche Hektik! Überall Hochbetrieb. Zum Glück brauchten wir unser Privatgepäck nicht zu verstauen. So waren wir mal wieder von 19 Uhr bis nach Mitternacht voll beschäftigt. Der Dienst heute dauerte für die 3. Batterie nur bis zum Mittag. Ich, als Schreiber vom Dienst, bin einer der wenigen, die noch arbeiten. So sitze ich heute Nachmittag alleine auf dem Geschäftszimmer und bewache das Telefon, denn überall im Bataillon wird noch gearbeitet. Dienstliche Geschäfte habe ich bereits erledigt. Am Dienstag und Mittwoch nächster Woche sind wir zum Kilometerfressen wieder draußen: Zieldarstellung am Trompeterberg.

 

Heute war wieder Vereidigung. Erneut ein viertel Jahr vorbei. Es ist kalt geworden. Auf unserem Feuerlöschteich hat sich bereits eine dünne Eisdecke gebildet. Morgen hat der Spieß Urlaub. So erlebe ich mal ein ruhigeres Wochenende. Heute hat der Hauptfeldwebel hier wieder einen Rekruten zusammen geschissen, dass die Fenster bald zersprungen wären. Seine gelbe Schnur ist schon längst taub und vergilbt langsam immer mehr. Jedoch wer brüllt, hat meistens Unrecht. Keiner wagt ihm dies mal zu sagen. Wenn sich hier meine Tage dem Ende nähern, könnte ich es ja mal versuchen. Im Augenblick ist es mit 295 Tagen noch etwas zu früh dafür. Ich könnte mir dadurch Nachteile für die Tage nach meinem bald bevorstehenden Bergfest Ende Dezember einhandeln.

 

11. Dezember

 

Die Übung von Dienstag/Mittwoch ist vorbei. Morgens um 5.30 Uhr gab es "Übungsalarm". Jeder musste im Schlafanzug auf dem unteren Flur antreten. Ich bewegte mich als Schreiber vom Dienst im Nachtkostüm zur Schreibstube. Dann hieß es: Kampfanzug an und persönliche Ausrüstung verpacken. Akten verladen, Kisten schleppen. Um 7.30 Uhr verließen wir die Kaserne. Ein dicker, eiskalter Nebel lag über dem Land an der Leine, die Bäume waren mit weißem Reif überzogen. Wir bewältigten die 25 Kilometer bis zum Trompeterberg wie nichts. Jenes Übungsgelände für unsere Geschütze ist ja schließlich (fast) jedem bekannt.

 

Wir richteten dort ein Biwak ein. Frühstück und Mittagessen fielen fast zusammen. Wir lungerten bei Kälte in der Gegend herum. Hin und wieder suchten wir im Schreibstubenwagen, der spärlich beheizt warm, Unterschlupf. Ich schob in der Nacht zu Mittwoch Wache. Vier Stunden. Unsere Batterie war zur Nachtfahrt ausgerückt, nur wenige blieben zurück. Auf mich war Verlass. Weit und breit kein Haus, kein Licht, nur Felder und Krüppelkiefern. Mit denen verband sich ja so einiges mit mir (siehe Grundausbildung). Wir zündeten ein Lagerfeuer an und genossen die Lagerromantik.

 

Vor Weihnachten wird nun kein verlängertes Wochenende mehr gewährt. Dieses "Verlängerte" wurde von unserem Bataillonskommandeur allgemein heute kritisiert. Es ist nämlich in der letzten Zeit schon mal vorgekommen, dass unser Kommandeur eine Batterie am Samstagmorgen fast leer vorfand. Wenn das der Russe mitkriegt! Das wäre kein schönes Verlängertes!

 

17. Dezember 1963

 

Der Montag gestern hat mich sehr gefordert. Das Schlimmste aber war die Kälte. Der Orientierungsmarsch bereitete für mich kaum Probleme. Mit dem Sturmgepäck auf dem Rücken war ich in dieser Weise wohl seit Juni nicht mehr marschiert. Es ging um 6 Uhr los. In einer langen Reihe bewegten wir uns durch die verschneiten Wälder. Nach etwa zehn Kilometern trafen wir in Resse an unserem Schießstand ein. Dort begann das große Frieren. Nass geschwitzt vom Marschieren standen wir zunächst einmal untätig herum. Wir kamen auf die tollsten Ideen, um uns warm zu halten. Wir balgten uns und spielten Nachlaufen. Ich selbst hatte um 15 Uhr alle Übungen durchgeschossen. Ich fuhr danach mit dem Jeep zurück zur Kaserne. Anschließend brauchte man mich als Beifahrer eines LKW, der die restlichen Kameraden vom Schießstand abholen sollte. Dort angekommen, schossen wir noch neue Gewehre ein.

 

Als Telefonposten gab ich die Schießergebnisse unten vom Anzeigestand, einem eiskalten Betonbunker, durch.  Über uns pfiff die Munition, dann wurden die Tafeln ausgewechselt und die Ergebnisse durchgegeben. Ein Kamerad wärmte uns ein wenig mit dem Inhalt einer Flasche, deren Flüssigkeit stark nach Rum roch. Es passte: Wir saßen ja auch hier bloß rum. Warum soll nicht eine Flasche auch mal he-rum wandern. Gegen 16.30 Uhr konnten wir den Anzeigebunker verlassen. Wir bequemten uns auf einen LKW, hinten offen. Die Kälte hatte nun eine neue Richtung. So fand ich die Temperatur in der Kaserne maßlos übertrieben.

 

Heute habe ich mich mit der Weihnachtsfeier und der Päckchenaktion beschäftigt. Ich habe gedichtet im Stil einer Büttenrede. Morgen erhalte ich mein Weihnachtsmannkostüm. Die Feier findet morgen Nachmittag statt. Übermorgen muss ich dann noch die Kinder der Verheirateten unserer Batterie bescheren.

Nach all diesen Aktivitäten steht mein Weihnachtsurlaub nun kurz bevor. Meine ersten Karten sind bereits geschrieben. Das Jahr 1963 geht bald zu Ende. Im nächsten Jahr melde ich mich wieder. Dann beginnt die zweite Hälfte meiner Dienstzeit.

 

************  Prosit Neujahr!!

 

4. Januar 1964

 

In dieser ersten Woche des neuen Jahres war ich mit Feldwebel Balzer allein auf der Schreibstube. Umgekehrt dasselbe, bis auf das Vorgesetztenverhältnis. Unser Oberleutnant Vilette übernahm die Geschäfte des Batteriechefs, Hauptmann Ignée, der, wie fast die Hälfte unserer Abteilung, Neujahr-Dienstbefreiung genießt. Auf Grund der geringen Dienststärke fiel nicht viel Arbeit an. Dennoch reichte es mir, da ich die Aufgaben für insgesamt drei Stabsdienstsoldaten erledigen musste. Also klotzte ich ran, auch ohne die Macht zusätzlicher Befehle. Wer leistet schon gerne unbezahlte Überstunden? Es gelang mir, die Arbeit einer ganzen Woche pünktlich am Samstag abzuschließen.

 

Wegen des Kasernen- Alkoholverbots zu Silvester musste ich zum Jahreswechsel mit drei Flaschen Bier auskommen. Um Null Uhr griff ich zur Trompete und machte damit einen Höllenlärm, der mehr Aufsehen erregte als alle Knallfrösche und Kracher zusammen. Die sich anschließende Ruhe war deshalb besonders intensiv erlebbar und wurde sogar vom pulsierenden Blut in den Ohrengängen übertönt. In der nächsten Woche läuft meine Bereitschaft ab. Danach habe ich theoretisch Anspruch auf ein Verlängertes.

 

Gestern haben wir in der Schreibstube gemütlich Kaffee getrunken und Gebäck dazu gegessen. Inzwischen habe ich bereits auf so manchem Radio von Kameraden den Polizeifunk herein geholt. Damit hören wir mal hin und wieder direkt nach draußen, was dort so passiert, während wir an die Kaserne gebunden sind. Außerdem melden sich schließlich dort ebenfalls Uniformträger, wenn auch nur per Funk und ohne unsere Grüße wahrnehmen zu können. Wenn Uniformen auch verbinden, wies ich jeden Kameraden dennoch darauf hin, dass das Abhören des Polizeifunks gesetzlich verboten ist. Auch Vorgesetzte!

 

12. Januar

 

Mein Stubenkamerad Rolf Wintersig macht jetzt hier den Führerschein. Er ist nun auch Gefreiter geworden zusammen mit noch elf anderen Kanonieren in unserer Batterie. Im Moment ist es lausig kalt draußen, passend zu unserem Vorhaben, morgen wieder zu Schießübungen für zwei Tage hinaus zu fahren. Auf dem Geschäftszimmer gibt es zurzeit sehr viel zu tun, da wir auf Rolf wegen seiner Fahrschule verzichten müssen. Deshalb muss ich vielleicht nicht mit raus.

 

15. Januar

 

Die zweitägige Zieldarstellung am Trompeterberg, an der die Geschützbesatzungen sowie einige Kraftfahrer teilnahmen, ging heute zu Ende. Es wurde jedoch nicht draußen übernachtet. Die Batterie kehrte gestern Abend wieder in die Kaserne zurück und fuhr heute Morgen erneut zum Trompeterberg hinaus. Es bleibt noch länger winterlich kalt.

 

Die Gerüchte um die Versetzung unseres  Hauptfeldwebels haben sich bislang nicht erhärtet. Somit bleibt wohl zunächst alles beim alten und bei dem Alten. Heute wurden die Übungsvorhaben der Batterie für 1964 herausgegeben. Es sollen weitaus mehr Übungen stattfinden als im vergangenen Jahr. Allein während meiner restlichen Dienstzeit sollen es noch sieben sein, davon zwei in Todendorf: die erste vom 27. Februar bis 25. März, die zweite vom 1. bis zum 27. August. Ende April findet eine Übung in Munster statt. Weitere Übungen tragen die Namen "Playboy" und "Backlash". Gar manches Urlaubswochenende wird durch jene Aktivitäten draufgehen.

 

22. Januar

 

Für die dritte Batterie gibt es in diesem Jahr keine Osterdienstbefreiung, stattdessen fünf Tage Urlaub zu Pfingsten. Wegen meiner erneuten Bereitschaft liegen mein Sturmgepäck und mein Rucksack fertig gepackt auf dem Spind. Das ist eine ernst zu nehmende Vorschrift, deren Nichtbeachtung unangenehme erzieherische Maßnahmen zur Folge hat. Ich sah schon Kameraden, die deshalb "nachdienstlich" abends Stunden lang mit ihren Klamotten beschäftigt waren. Bei mir steht eine Kontrolle bislang noch aus. Oder ist das Vertrauen in mich etwa gewachsen?

 

28. Januar

 

Noch 242 Tage! Was die späteren Reserveübungen angeht, könnte ich als Stabsdienstsoldat besonders gut davonkommen. Es werden nämlich sehr selten solche Leute für eine Übung eingezogen, da jene Dienststellen immer besetzt sind und auch sein müssen und weil sich eine Einstellung für eine relativ kurze Zeit nicht lohnt. Wenn ich später dennoch zu einer Reserveübung eingezogen werden sollte und ich dann einen festen Beruf als Lehrer nachweisen könnte, wäre es für mich möglich, in kurzer Zeit nach mehreren Übungen bis zum Leutnant der Reserve aufzusteigen. Hier ist ein Fall bekannt, in dem ein Gefreiter RUA in wenigen Wochen zum Leutnant befördert wurde, und zwar auf Grund seines Zivilberufes.

 

Für Leute mit Abitur werden Reserveübungen auf Wunsch zu Lehrgängen, in denen sie "Versäumtes" nachholen können. Auch ich als W 18 - Gefreiter und Abiturient hätte noch nach meiner Dienstzeit manche Möglichkeit, mich beim Bund nachträglich zu verbessern. Wenn ich es denn wollte.  Jetzt erst einmal noch 200 "Gitterstäbe" vor mir, dann kann ich durchs Fenster kriechen. Jeder "Stab" will mehr oder weniger mühsam durchgefeilt werden. Es heißt ja auch "Stabsdienstsoldat".

 

5. Februar

 

Zurzeit machen wir hier wieder Überstunden. Der Chef ist vom Lehrgang zurück und ich sitze um 18.30 Uhr noch immer im Geschäftszimmer. Am Samstag bin ich "Gefreiter vom Dienst". Wir Schreiber treiben nun mehr Sport- eine Empfehlung vom Spieß.

 

7. Februar

 

Ich denke nun schon häufiger daran, dass Ende September für mich ein neuer Lebensabschnitt beginnt, bedingt durch den Einstieg ins pädagogische Studium. Initiative und Energie habe ich ja wohl in meiner Dienstzeit bis dahin genug erworben. Jene 18 Monate begannen für mich wie eine kalte Dusche vor den eigentlich angestrebten Schritten ins Leben. Kalte Duschen sind ja nicht unbedingt angenehm. Ihre belebende Wirkung zeigt sich erst viel später.

 

9. Februar

 

Es ist 10 Uhr. Schon seit gestern Mittag bin ich "Gefreiter vom Dienst". Jene Verplanung endet heute zur Mittagszeit. Geschlafen habe ich von 23 bis 2 Uhr. Danach legte sich der U.v.D. aufs Ohr und ich hielt die Nachtwache. Ich las Zeitung und schrieb Briefe.

 

Ich habe mir Informationsmaterial für einen Fernlehrgang zur Vorbereitung auf die Lizenz als Amateurfunker bestellt. Ich werde vielleicht schon während meiner restlichen Dienstzeit mit den Lektionen beginnen.

 

11. Februar

 

Ich habe den Eindruck, dass es vor Todendorf keinen Urlaub mehr gibt. Die neue Kantine auf unserem Kasernengelände soll im April fertig werden. Eine große Eröffnungsfeier ist geplant. Jede Batterie soll aus diesem Anlass etwas Lustiges vortragen. Deshalb ist man auch wieder an mich herangetreten, etwas anzubieten. Das dürfen natürlich keine Dinge sein, die ich in Todendorf bringen werde.

 

Die Wehrpflichtigen sollen bald kostenlos mit der Bahn nach Hause und zurück fahren können. Jenen Militärfreifahrtsschein hätte ich gerne noch vor meiner Entlassung. Von einem Leutnant könnte ich eine NSU "Quickly" für 50 DM erwerben. Das Moped will ich mir bald ansehen. Bei diesem Preis mache ich mir aber nicht all zu große Hoffnung auf eine noch vorhandene solide Fahrbereitschaft des Vehikels.

 

12. Februar

 

Man spricht hinter vorgehaltener Hand wieder von Alarm. Vielleicht ist dies aber auch nur eine "Scheißhausparole". Wir haben über längere Zeit keinen Bataillonsalarm mehr gehabt. Ich habe hier überhaupt noch keinen erlebt. Ich kenne nur den NATO - Alarm, die verschiedenen Batteriealarme und diejenigen während der Grundausbildung. Warum ist eigentlich nie mal ein Fehlalarm dabei gewesen?

 

 

18. Februar

 

Heute war hier wieder Vereidigung, bei dichtem Schneetreiben und einem eisigen Wind. Ich habe eine Dreiviertelstunde in Reih und Glied gestanden ohne Bewegung, die Hand verkrampft an der Maschinenpistole. Früh friert, was ein Meister werden will. Dies war somit schon die dritte Vereidigung von Rekruten der Ausbildungskompanie 4 Strich 1 nach der meinigen.

 

Urlaub gibt es vor Todendorf nicht mehr. Der Grund: Vorbereitungen, Belehrungen und Unterricht. Auf der Schreibstube stehen bereits die ersten großen Kisten zur Füllung mit Vorschriften, Akten, Schriftmappen usw. Der 27ste rückt immer näher. Bald ist bereits März. Ich weiß kaum, wo die Zeit geblieben ist. Nach Todendorf dürfen wir keine Zivilsachen mitnehmen, also zum Beispiel keine zivilen Kleidungsstücke.

 

Die neue Kantine des Fla- Bataillon 1 soll vielleicht schon im April mit einer großen Feier eingeweiht werden. Ich habe mich für vier Einzelvorträge gemeldet. Alle Soldaten unseres Bataillons (über tausend Mann) werden dort versammelt sein, wenn ich dort meine Show abziehe. Bald werde ich hier auch beim dem letzten Soldaten als Bataillonskomiker bekannt sein. Auch in Todendorf soll ich bei einer Feierlichkeit auftreten. Bei der Bundeswehr können sie fast jeden gebrauchen. Ich diene also weiterhin.

 

20.Februar

 

Nun steht der Abmarsch nach Todendorf bevor. Dienstagabend um 20 Uhr werden wir auf dem Güterbahnhof in Langenhagen verladen. Wir werden dann wohl die Nacht in den Waggons verbringen. Wann wir oben eintreffen, kann ich noch nicht sagen. Es gibt noch eine Menge zu tun: Packen und Verladen. Das hört sich sehr einfach an, einfacher als es ist. Die Schreibmaschine erleichtert mir das Berichten außerordentlich. Im letzten Jahr war es noch so, dass ich nach Dienst nicht mehr in unseren Arbeitsraum konnte und alles handschriftlich erzählen musste.

 

Der Frühling rückt näher und die Sonne gewinnt an Kraft. Die Tageslänge nimmt zu. Ab Dienstag erreicht ihr mich unter der Adresse: Klaus Hoffmann, Fla- Schießplatz 2321 Todendorf, Lager D/3, 3. Fla Btl 1.

 

Der Spieß sagte heute zu mir: "Hoffmann, Ihre Ruhe möchte ich mal eine Woche lang haben". Da dachte ich mir: "Leider kann ich Ihnen die nicht befehlen, denn ich bin nicht Ihr Vorgesetzter."

 

Todendorf, 27. Februar

 

Nachdem wir am Montagabend unsere gesamte Ausrüstung verpackt hatten (Sturmgepäck, Rucksack, Seesack u.s.w.), ging es am nächsten Tag im Geschäftszimmer zügig voran: Akten, Büromaterial, Vorschriften in Schränke und Kisten verpacken und auf Wagen verladen. Eine Mordsschlepperei von bis zu zwei Zentner schweren Kisten. Nach dem Abmarsch zum Bahnhof Langenhagen wurden wir dort um 20.30 Uhr verladen. Zunächst die Kettenteile (fast 20 Geschützpanzer von etwa 30 Tonnen je Stück), dann die Räderteile: Fünftonner MAN LKW, Hotchkiss und Jeeps.

 

Viel Arbeit gab es auf den Waggons: Holzklötze zur Befestigung der LKW einschlagen und die Wagen mit kiloschweren Ketten verzurren, das heißt: hinten und vorn am Kraftwagen Ketten befestigen und dann fest mit den beiderseitigen Enden der Waggons verbinden, damit die Wagen während der Fahrt feststehen und weder nach den Seiten noch nach vorne oder hinten ausweichen können. Nach getaner Schufterei auf den Waggons stiegen wir dann in unsere First Class Abteile und machten es uns dort bequem. Dann rollte der über einen halben Kilometer lange Zug langsam an. Die Radlager knirschten, die Schienen stöhnten und die riesige Dampflokomotive fauchte und zischte wie wild. So rollten wir fortan durch die Nacht. Bald wurden wir so müde, dass wir beschlossen, zu Bett zu gehen.

 

Zwei von uns legten sich ganz oben ins Gepäcknetz, die anderen beiden, darunter ich, der Länge nach auf die Bank. So schliefen wir den größten Teil der Nacht durch. Im Unterbewusstsein hörte ich ständig das Schlagen der Räder auf den nicht verschweißten Schienen. Ich bemerkte, dass der Zug oft anhielt, weil es auf einmal totenstill wurde. Dadurch wurde ich ebenso wach wie durch den Ruck des plötzlichen Wieder- Anfahrens.

 

Morgens um 7.10 Uhr wachten wir auf. Stöhnend unter der Last ratterte der Zug mit seiner fauchenden Lokomotive noch immer durch die Gegend. Die hügelige Landschaft, hin und wieder mit etwas Schnee bedeckt, sah ziemlich trostlos aus. Die Sonne verkroch sich ängstlich hinter einer Dunstschicht. Einen derart schwerfälligen lärmenden Lindwurm aus Stahl bekam sie nicht täglich zu Gesicht. Unsere Scheiben beschlugen immer mehr und ersetzten die in unserem Wohnmobil fehlenden Gardinen. Nach einer weiteren Stunde trafen wir in Lübeck ein. Dort wurden wir zunächst einmal auf ein Abstellgleis geschoben. Mehrere zivile Züge donnerten an uns vorüber. Danach krochen wir mit dem Tempo eines ermüdeten Radfahrers zweieinhalb Stunden über kleine Steigungen hinweg mit zwei Dampflokomotiven in Richtung Lütjenburg und erreichten, nachdem wir uns schon Sorgen um den Gesundheitszustand unserer Loks gemacht hatten, diesen Endbahnhof unserer Reise.

 

Dort ging jegliche bereits bekannte Aktion wieder von vorne los, allerdings in umgekehrter Reigenfolge: alles losmachen und so schnell wie möglich runter von den Waggons. Unser Schreibstubenwagen streikte und hielt den gesamten Verkehr auf: Batterie leer. Nach kurzer Verzögerung sprang unsere Schaukel endlich an. Der Landmarsch nach Todendorf begann: erst die Kettenteile, dann die Radteile. Im Lager angekommen, begannen wir sogleich mit den Einräumungsbemühungen. Gegen Mittag waren wir nahezu damit fertig.

 

Inzwischen ist hier der eigentlich Dienst angelaufen und man kommt abends endlich mal wieder zur Ruhe. Die Ostsee passt sich an und umgibt sich dabei mit einer Dunstschicht. Die Nächte sind noch sehr kalt. Am Tage genießen wir die wärmenden Sonnenstrahlen des Vorfrühlings. Wir liegen wieder in Lager C und ich kenne somit hier in diesem Labyrinth von Wegen und Baracken jede Ecke. 500 Kilometer trennen mich nun von zu Hause.

 

28. Februar

 

Das Wetter hat sich verschlechtert. Die ganze Nacht goss es in Strömen. Demnächst findet hier oben irgendwo in einem Nachbarort ein Manöverball statt. Dann fließt auch das Bier ähnlich. Wir haben damit begonnen, Plakate für die Veranstaltung vorzubereiten.

 

Da das Schießen sehr vom Wetter abhängt, kann man nicht weit vorausplanen. So kommt der Dienstplan für den nächsten Tag oft erst am Vorabend heraus und wird dennoch oft am nächsten Morgen wieder umgeschmissen. Verplanungsmöglichkeiten gibt es hier oben genug: Wache, Kraftfahrer vom Dienst, Unteroffizier vom Dienst, Gefreiter vom Dienst, Offizier vom Lager, Streife u.s.w. Die meisten adelig: "von Dienst". Wahrscheinlich habe ich morgen Lagerstreife, und das auf einen Samstag, wo abends die Kneipen voll von teils vollen Soldaten sind.

 

 

2. März

 

Heute Morgen gab es Formalausbildung. Wir waren sehr in Form. Bis an die  Ostsee marschierten wir mit derart lautem "Gesang", dass er sogar den Geschützdonner übertönt hätte.  Im Moment fliegen aber noch immer keine Maschinen, da sich zwischen Bundeswehr und Vertragsfirma Differenzen ergeben haben. Apropos Kleinkrieg: Über meinen Spieß habe ich mich auch hier oben schon wieder aufregen müssen. Aus jeder Mücke macht er einen Elefanten und schießt mit Kanonen auf Spatzen. Ich habe ihm jetzt das Lied von den zwei Kanonen gewidmet: "Herr Hauptfeld, ich kann ohne Sie nicht leben, ich kann ohne Sie nicht sein!"

 

Todendorf, 3. März 1964

 

Ab morgen fliegen die Zieldarstellungsmaschinen wieder. Es gibt somit keinen verfrühten Rückmarsch. Ich warte nun hier in der Kritzelbude auf den Schießbefehl für morgen, den ich nach Erhalt sofort zum Offizierskasino zum Chef bringen muss. Außerdem will ich noch die Dienstpläne verteilen. Wir machen hier durchweg Überstunden. Auch die Mittagspause ist für uns Stabsdienstsoldaten kürzer als für die anderen Kameraden. Es stimmt zwar, dass Todendorf dienstlich und privat eine Abwechslung darstellt, jedoch wünsche ich manchmal, wieder im Standort zu sein. Allein die Tatsache, dass wir zu vierzehn Mann auf einem Zimmer liegen, hat allerlei unangenehme Begleiterscheinungen: Lärm, Unordnung, schlechte Luft und Balgereien.

 

Der eine ist besoffen und kehrt erst spät zurück. Alle werden wach, die einmal früher schlafen wollten. Und dann das verdammte Schnarchen in den Nächten. Wir führen hier regelrechte Schnarchkonzerte mit den tollsten Variationen und Rhythmen auf. Wer aufwacht, wird zum unfreiwilligen Konzertbesucher. Doch niemand ist zum Applaus bereit. Schnarchen ist das einzige, was auch ohne Lehrgang funktioniert. Wehe, jemand ist noch dazu erkältet! Dann erhalten die zu sägenden Baumstämme riesige Ausmaße. Ich denke dann oft: Kamerad, du schaffst das, gib nicht auf! Morgen werden wir dich alle bewundern. Wieder ein neuer Weltrekord oder zumindest eine Steigerung der bisherigen Eigenbestleistung.

 

Wir haben auch jemanden unter uns, der im Schlafe mit den Zähnen knirscht. Das hört sich in etwa so an, als würde jemand auf einem alten Brett auf- und abwippen. Plötzlich schluckt es mal kurz und "knöddert", als wenn ein Hund ein Stück Apportierholz anknabbert. Die Blechspinde sind so eng, dass man die Türen nur mit entgegen gestreckten  Armen öffnen sollte, falls man sich nicht anschließend mehrmals bücken möchte. Hau ruck - und zurück. Was dann doch noch vor die eigenen Füße fällt, lassen manche einfach liegen. Jene Spinderleichterung hat manchmal eine katastrophale Unordnung im Schlafraum zur Folge und führt bisweilen zu Auseinandersetzungen im Bereiche der Besitzansprüche. Die Rucksäcke liegen schon längst unter den Betten, da sie sich von Anfang an nicht mit den engen Spinden anfreunden konnten.

 

Mit dem Essen war das neulich auch so eine Sache. Ich bemerkte, wie allmählich immer weniger Erbsen auf den Teller gehauen wurden. Auf einmal war überhaupt kein Gemüse mehr vorhanden. Am nächsten Morgen gab es als Abwechslung mal gar keinen Kaffee. Der Küchenchef  hatte mit uns noch nicht gerechnet, obwohl er die Essenszeiten herausgibt. So trank ich dann den Rest meiner Limonade vom vergangenen Abend. Der Kaffee, wenn es ihn gibt, schmeckt übrigens überhaupt nicht und lässt dies nur in sehr heißem Zustand vergessen, weil sich dann die Zunge über die Bitterkeit der Dünenjauche hinwegtäuschen lässt. Ansonsten ist das Essen aber im Durchschnitt besser als am Standort. Vielleicht wird dort zu wenig durchgeschnitten. Hier werden wir schon mal mit einer Tafel Schokolade (50 g) verwöhnt, sehr oft mit einem Apfel und Senf. Gestern gab es echte Rollmöpse. Wahrscheinlich werden diese von der Ostsee angetrieben, aufgespießt und dann zum Trocknen aufgehängt. Es waren Essig - Roller. Wenn´s nichts ist, ist´s eben Essig.

 

Gerade traf der Schießbefehl ein. Ich muss die Bude schnell verlassen. Ein Soldat hat einen Befehl ja unverzüglich auszuführen, vor allem, wenn er sich beobachtet fühlt. Ich schließe ab und marschiere rüber zum Chef. Drei - vier - ein Lied. Lied durch! "Jetzt kommen die lustigen Tage, Schätzel ade". Was heißt "kommen"? Die sind doch längst da. "Es tut mir gar nicht weh!"

 

Todendorf, 6. März

 

Der Winter holt seine letzten Reserven aus der Mob - Kiste. Ein eisiger Wind fegt über die Ostsee. Am Tage wirbelt er in kräftigen Schauern Schneeflocken umher. Darin ist unser Spieß sogar manchmal nicht mehr zu erkennen, was somit zu den angenehmen Kapriolen dieser Wettererscheinungen gehört. Dazwischen kommt schon mal die Sonne durch, ebenfalls recht angenehm. Die See ist ziemlich unruhig. Ihr Rauschen ist bis hierhin zum Lager vernehmbar. Die Sicht wurde in den letzten Tagen wesentlich besser. Mit dem Durchblick hapert es jedoch noch bei so manchem Soldaten.

 

Die Ostsee liegt wie ein dunkelblaues Band etwa vierhundert Meter entfernt vor mir. Die Nächte gestalten sich geheimnisvoll. Nur wenige Laternen erhellen den weiträumigen Lagerbereich mit seinen zahlreichen, schmalen, sich ewig stets neue begegnenden Wegen. Aus den steinernen Lagerblöcken, von denen einige verlassen und wie ausgestorben, fast ruinenhaft sich geben, fließt ein gelblich brauner Schein. Melodien dringen nach draußen, oft leise und ersterbend: der etwas wehmütige Klang des Schifferklaviers, davongetragen vom fernen Rauschen des Wassers, vermischt mit einem Windgeräusch aus leichten Böen, die an Bäumen und Masten vorüber streichen.

 

Außer wenigen Laternen, von denen sich die eine oder andere hinter fernen flachen Dächern versteckt und die nur durch den malerischen Anstrich, den sie mit geisterhaftem Pinsel, getaucht in eine traumhafte Palette aus Licht und Schatten, den in enger Reihe folgenden Giebeln verleihen, ist alles dunkel, falls man nicht gerade an einem erleuchteten Fenster vorüber geht. Besonders nordwärts, wo die See in unergründlicher Tiefe brodelt, scheint jede Hoffnung darauf, dass es nochmals einen neuen Tag geben wird, versiegt zu sein. Und doch ist der Lagerbereich wie eine Insel, an deren Steilküste Ungewissheit, Ungemach und Verderben wie schäumende Brecher nagen und die jenen Angriffen immer aufs Neue standzuhalten versucht.

 

Kehre ich danach in unseren Unterkunftsraum zurück, setzt sich dieses Leben, dieses Er-Leben fort. Dort liegen bereits einige meiner Kameraden auf ihren Pritschen, lesen noch oder schlafen bereits mit oder ohne Verstellung. Dort trinkt einer eine Flasche Bier nach der anderen. Unvermittelt lässt jemand einen fahren, dass die Wände erzittern, so dass die Frage auftaucht, ob die Risse an der Giebelwand auch heute früh bereits zum Inventar gehörten.

 

Zwei Kameraden setzen ihre Balgerei, eben noch in den Kinderschuhen, im Reifestadium fort. Ein anderer nimmt auch hier seinen Stubendienst ernst und fegt mir einem Besen dazwischen, dessen Borsten schon mal bessere Tage hatten, der jedoch bis heute dienstfähig geblieben ist. Jetzt schreit jemand: "Fenster auf!" Da sich immer jemand findet, der sofort auf einen Befehl reagiert, entsteht Durchzug, so dass die Außentür zuknallt. Danach betritt noch ein anderer ziemlich platt die Unterkunft, ein weiterer Heimkehrer, obwohl es nichts zu kehren gibst, schon mal gar kein Heim.

 

Der eine sitzt auf der Bettkante und zieht sich aus, ein anderer schnarcht schon. Er stimmt sein Instrument für die Nacht. Wieder einer schlappt mir Riesenlatschen durch den Raum und trägt seinen Zahnputzbecher wie eine brennende Kerze in aller Vor- und Rücksicht vor sich hin, sein Handtuch noch auf dem Rücken. Nun vernimmt man ein lautes "Scheiße!" Sofort beschweren sich einige über den Krach.

 

Ein anderer kehrt von draußen zurück, schlechter Luft offensichtlich für längere Zeit entwöhnt, und brüllt: "Hier stinkt es ja wie im Entenpuff Kairo!" Danach macht jemand einen Scherz und knippst das Licht aus. Alles brüllt: "Licht an! Welcher Idiot war das?"  Wenn dann die Nacht hereinbricht mit ihren kleinen Zahlen auf den Zifferblättern, beginnen einige im Schlaf zu sprechen. Die zahlreichen Schnarchgeschichten wiederhole ich hier nicht mehr. Morgen ist übrigens unser Manöverball, das Schluckfest mit weiblicher Auflockerung.

 

 

 

8. März

 

Heute ist ein herrlicher Vorfrühlingstag. Der böige kalte Wind hat sich gelegt. Die Ostsee gleicht nun eher einem großen stillen Teich. Die Vögel singen, sonst ist es, absehen von den Schrittgeräuschen gelegentlich vorübergehender Soldaten, nahezu still. Die Kraftfahrzeuge stehen in Reih und Glied auf dem Kfz- Platz: Pause! Sonntag! Der gestrige Manöverball liegt hinter uns. Wir waren so richtig ausgelassen. Wir haben gelacht, uns dabei auf die Schultern geklopft und mit allen angestoßen, sei es mit gleichen Dienstgraden oder Vorgesetzten. Hin und wieder bin ich auf die Bühne gesprungen und habe ein paar Witze erzählt. Das zeigte in den ersten drei Stunden noch Wirkung, dann ließ jedoch die Aufmerksamkeit des Publikums wegen des Alkoholeinflusses erheblich nach. Es wurde viel getrunken und wir hatten alle "einen hängen". Jedoch muss ich sagen: Keiner wurde ausfallend, jeder war noch Herr seiner Lage, auch außerhalb des Lagers. Gegen 2.30 Uhr in der Früh lagen wir endlich alle wieder in unseren Betten.

 

Die Biersorte hier oben nennt sich "Eiche". Deshalb gibt es die Redensart: "Abends Eiche, morgens Leiche". Wir wurden bereits um 6.30 Uhr geweckt, doch niemand regte sich oder regte sich auf. Erst nach einer gewissen Zeit für die erforderliche Selbstüberwindung, erhoben sich die ersten Kameraden. Manche zogen sich nur schnell den Trainingsanzug an und legten sich sofort wieder hin. Aus einem Radio, das uns das Aufstehen erleichtern sollte, klang die Melodie: "Es gibt kein Bier auf Hawaii", gesungen von Paul Kuhn.

 

Willkommen, schöner Sonntag, schönes Wetter! Ich werde heute Nachmittag einen ausgedehnten Spaziergang am Leuchtturm vorbei machen. Die Luft ist so klar und ich hoffe, dass auch mein Schädel sich dem bald anschließt.

 

10. März

 

Ein Päckchen von Zuhause fand heute den Weg hierhin. Danke für den Doppelrahmkäse und die Marzipanstangen. Der Nussriegel erweckte in mir geradezu einen Heißhunger.

 

Am Sonntag machte ich mit zwei Kameraden einen Ausflug nach Behrensdorf. Wir schlenderten Stunden lang an der Ostsee entlang  bis zum Leuchtfeuer Howachter Bucht und kehrten dann in einer Gaststätte ein. Dort aßen wir unpassend zur Tageszeit ein Bauernfrühstück. Am Strand war es ungewohnt warm, denn dieser liegt im Bereich der Steilküste recht geschützt und sammelt die Sonnenstrahlen ein. Heute ist es zwar etwas neblig, aber der Himmel ist heiter.

 

Morgen oder übermorgen gibt es einen Schreibstubenabend aus Anlass der bevorstehenden Entlassungen von Aschemann und Fw. Balzer. Heute habe ich noch genau 200 Tage und ein Frühstück vor mir. Gleich beginnt mein Dienst. Es ist kurz vor Mittag. Anschließend ist Diensteinteilung. Ich beteilige mich nun regelmäßig an unseren sportlichen Aktivitäten, denn zurzeit nimmt auch der Mond ab.

 

12. März

 

Nach den zahlreichen Fest- und Feierlichkeiten der vergangenen Tage, wobei ich eine Berauschung durch Alkohol gelegentlich über mich ergehen ließ, sehe ich heute Abend nun alles wieder von einem nüchternden Standpunkt aus. Gestern Abend fand im Örtchen Panker unser Schreibstubenfest statt. Wir drei Stabsdienstsoldaten, der Spieß,  unser Rechnungsführer, unser Batterietruppführer und der Chef, der sich allerdings nur mal kurz sehen ließ, nahmen daran teil. Mit zwei Jeeps fuhren wir gestriegelt, wenn auch nicht gerade gebügelt, im Ausgehanzug nach Panker. Um jedes Risiko zu vermindern, wurden als Fahrer  nur Tages- Antialkoholiker eingesetzt. Sie brachten uns sicher zu einer kleinen gemütlichen Gaststätte und holten uns dort gegen Mitternacht auch wieder "fahnenlos" ab. Wir aßen gemütlich zu Abend und verbrachten amüsante Stunden. Das Fest war hauptsächlich als Abschiedsfeier  gedacht. Unsere Batterietruppführer, Fw Balzer, und Gefreiter Aschemann werden in zwei Wochen entlassen. Die Stimmung erreichte kurz vor Schluss dieser Veranstaltung ihren Höhepunkt. Manche Flasche Bier hatte ihre enthemmende Wirkung entfacht. Gegen zwei Uhr morgens trafen wir wieder in unserem Block ein. Dort fiel ich sogleich über ein großes Stück Käse her, das sich noch in Mutters Päckchen befand. Dann schlief ich fest bis halb Sechs und kam auch verhältnismäßig gut aus dem Bett.

 

Der Dient wurde heute etwas aufgelockert durch das Infanterie - Gefechtsschießen unserer Batterie auf dem Truppenübungsplatz und Schießgelände Ost am Küstenstreifen. Wir schossen mit der Maschinenpistole MP 2 UZI und mit dem Gewehr G 3. Meine Schießergebnisse waren nur dann gut, wenn ich genügend Zeit zum Anvisieren hatte. Bei unvermittelten Schießübungen aus der Bewegung heraus kam ich ins Schleudern. Wir schossen zudem unter erschwerten Bedingungen, denn es pfiff ein steifer, kalter Wind von der Ostsee zu uns herüber - und wie es bei solchen Übungen nun mal ist: der größte Teil verstreicht mit Herumstehen. Mir wurde immer kälter. Die Ostsee war ziemlich unruhig. Das lag aber nicht an den zahlreichen Patronen, die ihre Oberfläche aufwühlten, so dass hohe Fontänen empor sprangen, sondern eben am Wind. Die Sicht war gestern und heute erneut so schlecht, dass unsere Geschütze keine Einsatzchance hatten, denn die Wolkenuntergrenze lag unterhalb von 200 Metern.

 

Heute Abend gibt es bereits die nächste Feierlichkeit: den Kraftfahrerabend. Das Geld zerfließt hier oben wie warme Butter. Am Montag gibt es endlich wieder Wehrsold. Nun muss ich noch den Dienstplan schreiben, im Lager verteilen und an die entsprechenden Pin-Wände bei den verantwortlichen Leuten heften.

 

14. März

 

Die Ostsee schäumt und kocht in eisigem Wind. Gestern war der Spieß den ganzen Tag über sichtlich angetrunken. Er hatte vorgestern Abend am Kraftfahrertreffen teilgenommen. Dort wurde wohl mächtig getankt und unser Hauptfeld besitzt keinen Führerschein. So hat er sich wohl vornehmlich mit dem Tanken beschäftigt. Gestern betrat er die Schreibstube sogar mit ein paar Flaschen Bier, wahrscheinlich aus einem Reservekanister abgefüllt. Danach verschwand er den ganzen Tag und kümmerte sich nicht mehr um uns. Selbst mittags erschien er nicht zur Befehlsausgabe. Als ich ihn dann am Nachmittag dienstlich aufsuchen wollte, saß er mit anderen Dienstgraden besoffen im Feldwebelheim. Er redete wirres Zeug, schlug mir auf die Schultern und pries mich als großen Komiker und Büttenredner an. Dann überreichte er mir zwei Flaschen Bier. Damit sollte ich mir Mut für einen Vortrag antrinken. Heute Morgen konnte unser Hauptfeldwebel seinen Kater kaum verbergen. Er gab sich ungewohnt kleinlaut, im wahrsten Sinne des Wortes, klein sowieso und dazu noch leise.

 

Ich sitze schreibend zurzeit in unserer Kantine. Erneut liegt eine Dienstwoche hinter mir. Nun noch eine, dann geht es wieder zum Standort in Hannover zurück. Ostern weile ich dann wieder in der Kaserne, um Kommis - Eier zu suchen. 

 

17. März

 

Ich sitze im Arbeitsraum der Kantine. Es ist sehr still. Vor mir steht eine Flasche Bier, die einzige Gesellschaft, die ich zurzeit habe. Am kommenden Montag fahren wir nach Lübeck, um uns diese Stadt einmal näher anzusehen. Das Wetter gestaltet sich immer noch recht winterlich. Obwohl der Frühling nun kalendarisch bald beginnt, treibt der eisige Wind noch immer jede Menge Schneeflocken vor sich her. Hier in Todendorf beginnt der Frühling oftmals erst im Sommer, sagt man. Noch eine Woche, dann verlasse ich hoffentlich diesen Arsch der Welt hier.

 

21. März

 

Das Zugunglück im Hauptbahnhof Hannover am vergangenen Donnerstag ist auf menschliches Versagen zurück zu führen. Die Lokomotive sollte einige Wagen abholen. Bei dem Einfahren in Gleis 12, das eine starke Kurve aufweist, bemerkten weder der Lokführer noch der Heizer den bereits dort eingefahrenen Personenzug in Richtung Minden. Durch den Aufprall gab es 49 meist Leichtverletzte. Dies ist somit schon das zweite Zugunglück hier oben während meiner Dienstzeit, und davon, dass die Bahn an die Börse gehen will, ist zurzeit noch gar keine Rede.

 

Nun mache ich mir bereits Gedanken darüber, wie ich zu Hause mein eigenes Zimmer nach meiner Rückkehr in 188 Tagen gestalten will. Es lenkt mich stark ab, mich bereits jetzt schon mit solchen Dingen zu beschäftigen. Diejenigen Kameraden, die am 24. März entlassen werden, darunter auch Aschemann, sind inzwischen bereits nach Hannover zur Auskleidung zurück gefahren. Warum durften sie sich nicht hier oben in Todendorf ausziehen? Einige mir sehr vertraute Kameraden sind nun leider für immer aus meinem Gesichtsfeld verschwunden. Ostern bekommen wir achtzehn neue aus der Ausbildungskompanie 4/1. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Nirgendwo passt der Ausdruck "panta rhei" (alles fließt) besser als bei der Bundeswehr.

 

Der April wird ebenfalls zum größten Teil mit Übungen vergehen. Die größte: Munster- Lager vom 20. - 30. des Monats. Ich hatte bereits Einblick in den Plan mit den Übungsvorhaben. Dagegen ist Todendorf eine Erholung. Wir schlafen in Munster in Zelten und die Sauberkeit hat dort nicht den besten Ruf. Wir bekommen bald zwei neue Schreiber.

 

Hannover- Flughafen, 27. März 1964

 

Vom Aufenthalt an der Ostsee aus Todendorf grüße ich euch nun wieder aus meiner Boelcke-Kaserne in Hannover- Langenhagen. Ursprünglich sollten wir mit unserem Schreibstubenwagen wie üblich mit der gesamten Batterie in Lütjenburg auf dem Bahnhof verladen werden. Nur die Versorgungsbatterie (die 5.) fährt mit ihren 15 Lastwagen im Landmarsch. Dort fiel jedoch ein Wagen aus, der abgeschleppt werden musste. Dieser wurde dann in Lütjenburg verladen und nahm den Platz auf dem Waggon ein, der eigentlich für unseren Schreibstubenwagen vorgesehen war. Somit fuhren wir als dritter Wagen einer langen Kolonne mit der 5. Batterie im Landmarsch die 280 Kilometer zurück nach Hannover. Nach etwa 100 Kilometern machten wir Technischen Halt. Alle Fahrzeuge, die während der Kolonnenfahrt einen Abstand von 50 Meter halten müssen, rückten nun dicht auf und hielten am Straßenrand. Dennoch hatte die Kolonne auch jetzt noch in diesem Zustand eine Gesamtlänge von fast 200 Metern.

 

Zu beiden Seiten der Straße befand sich dichter Wald, sehr geeignet für uns, unseren dringendsten Bedürfnissen nachzugehen. Nach jenen Entledigungen tankten wir Sprit aus unseren Reservekanistern nach und machten bis zum Aufbruch eine Pause. Doch schon bald ging es weiter und auch die restlichen Kilometer wurden mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 40 km/h bewältigt. Nach über sieben Stunden Gesamtfahrzeit trafen wir um 20.30 Uhr in der Kaserne ein. Hier luden wir sogleich alles ab. Unser Spieß schnappte sich sein Fahrrad, fuhr nach Hause und überließ mir die gesamten Einräumungsarbeiten. Immerhin konnte ich die Nacht in der Kaserne schlafen, während die anderen Kameraden meiner Batterie die Nacht im Zug verbringen mussten und erst gegen sechs Uhr am nächsten Morgen auf dem Bahnhof in Langenhagen eintrafen.

 

Gestern gab es hier sehr viel zu tun. 13 Mann wurden entlassen und 18 neue kamen hinzu. Es ging drüber und drunter und erst gegen 18.30 Uhr konnte ich unser Geschäftszimmer schließen. Danach musste ich noch meine Sachen einräumen. Ich habe jetzt einen viel größeren Spind übernommen und somit darin mehr Platz und Übersicht. Kamerad Wintersig fuhr in Osterdienstbefreiung, ebenso einer von unseren beiden neuen Stabsdienstsoldaten. Nun gibt es wieder zwei neue Gesichter auf meiner Stube. Ein Kamerad kommt aus Essen, der andere aus Krefeld.

 

Jetzt, nach unserer Rückkehr, merken wir erst richtig, wie rau das Klima dort oben an der Ostsee war. Am unangenehmsten empfand ich den ständig wehenden kalten Wind. Während wir dort oben kaum etwas vom nahenden Frühling spürten, gibt es hier bereits jede Menge Vorboten: Im Kasernenbereich tummeln sich Meisen, Eichelhäher, Elstern, Krähen, Amseln und Buchfinken. Morgens findet ein Vogelkonzert statt, dessen Lautstärke bisweilen ausreicht, uns zu wecken.

 

Frohe Ostern! Ich werde einige meiner Bekleidungsstücke in Ordnung bringen, da es bald eine Inspektion seitens der Division geben wird. Ansonsten werde ich lesen, schreiben und hin und wieder die Frau von Kant, die Kantine, aufsuchen. Nach den zahlreichen geschäftigen Tagen werden mir die ruhigen Ostertage recht willkommen sein. Zu Pfingsten komme ich dann für einige Tage nach Hause. Draußen scheint sich heute ein echter Frühling zu entwickeln, dazu Windstille nach vier Wochen meist starker Luftbewegung.

 

Munster- Süd, den 25. April 1964, Biwakraum F

 

Die Lage:

 

"Feind hat, von Norden her angreifend, in der vergangenen Nacht die Linie Rotenburg - Schneverdingen - Lüneburg gewonnen. Seine taktischen Luftstreitkräfte greifen vermehrt eigene (unsere)Marschbewegungen an und behindern sie. Eigene (unsere) Truppe führt das Abwehrgefecht so, dass der Feind in der Linie Visselhövede - Soltau - Munster zum Stehen gebracht wird. Unsere Luftwaffe ist ausschließlich zur Ausschaltung der feindlichen Nachschubbasen und Versorgungsstraßen eingesetzt. Flugabwehr- Bataillon 1 hat den Auftrag, die Feuerstellungen des Flugabwehr- Artillerie - Bataillons 11 im Stellungsraum Kreutzerberg gegen Tiefflieger und Luftaufklärung zu schützen. Taktische Atomsprengkörper bis zu 20 Kilo- Tonnen wurden bisher auf beiden Seiten eingesetzt. Am 24. April wurde ein Atomsprengkörper auf Wietzendorf geworfen."

 

Keine Angst! Dies ist eine Übung und der Feind ist weiterhin "imaginär". Ich habe nur den Lagebericht für die Übung verkündet, die morgen stattfinden wird. Schon die Hälfte der Zeit in Munster - Lager ist bereits vergangen. Hier mein Bericht:

 

Am letzten Sonntag war bereits um 20 Uhr Zapfenstreich, da wir bereits um ein Uhr früh wieder aus den Betten geholt wurden. Früh am Morgen trafen wir dann bereits in Munster - Lager ein. In unserem Biwakraum, einem typischen Fleckchen Lüneburger Heide (o Erika!), ließen wir uns nieder. Wir bauten unsere Zweimannzelte auf und schlugen Schilder mit den Aufschriften "Latrine" und "Abfälle" an den vorhergesehenen Stellen in den Boden. Dies alles bei schönstem Sommerwetter, das noch bis zum Mittwoch andauerte. Danach wurde es merklich kühler und es regnete hin und wieder.

 

Am Montag begann auch gleich das Erdzielschießen. Die Geschütze fuhren gleich durch bis zur Feuerstellung "Emmanshöhe". Es gibt hier natürlich noch mehrere Feuerstellungen wie "Kreutzerberg" oder "Sturmweg". Am Dienstag und Mittwoch setzte sich das Erdzielschießen fort. Ich hatte viel zu tun, da mein Kamerad Wintersig ausfiel. Er hatte sich beim Absprung aus dem Wagen einen Fuß verletzt. Er liegt zurzeit im Lazarett Traun.

 

Alle Schießübungen müssen ausgewertet werden. Dazu haben wir eine Menge verschiedenartiger Formulare auszufüllen. So kommt es, dass wir oftmals abends im Schreibstubenwagen Überstunden machen. Ich selbst erhalte vom Erdzielschießen einen guten Überblick, da ich mit der Auswertung beschäftigt und bei jedem Schießen mit an der Feuerlinie bin. Die andauernde Ballerei ist jedoch nicht gerade angenehm. Es knallt ganz schön, wenn unsere Fla abdrückt. Wir schießen mit Leuchtspurmunition auf etwa einen Kilometer entfernte feste oder bewegliche Ziele wie Panzerseitscheiben oder LKW- Attrappen. Die meisten Geschosse prallen, wenn sie auf die Erde stoßen, nach oben in Richtung Wolken ab. Manche hoppeln auch kilometerweit über die Erde oder bohren sich tief hinein.

 

Am Donnerstag hatten wir Infanterie - Gefechtsschießen mit dem G3 - Gewehr. In Punkto Deckung und Stellungswechsel mussten wir uns entsprechend einer uns vorher bekannt gegebenen Lage verhalten. Wichtig, dass man seine Lage kennt, ähnlich wie auch im eigenen Bett. Gestern und heute erneut Erdzielschießen, was denn sonst? Dazu sind wir ja schließlich hier. Morgen gibt es zur Abwechslung mal eine Batterieübung, damit wir nicht aus derselben kommen. Am Montag und Dienstag wird es dann echt aufregend: Handgranatenwerfen, Schießen mit der Panzerfaust und der Bazooka. Danach Sprengübungen. Hinzu kommt  noch eine Nachtfahrt mit Schießen im Dunkeln. Donnerstag wird dann unser letzter Schießtag sein, falls uns niemand den Krieg erklärt. Ihr lacht? Nach der Kubakrise vor zwei Jahren sind wir mit solchen Äußerungen nicht mehr so zimperlich. Am 1. Mai werden wir hoffentlich wieder in unserer Kaserne sein.

 

Bislang habe ich hier erst einmal im Zelt übernachtet, ansonsten im Schreibstubenwagen, um meine Schreibmaschine im Notfall verteidigen zu können. Der Schlafsack wird ausgebreitet und dann decke ich mich mit zwei Felljacken zu. Vorher kommt aber erst die Schreibmaschine unter ihre Haube. Erst danach kann ich recht angenehm schlafen. Über das Essen der Feldküche kann ich auch nicht klagen. Die Kameraden verstehen ihr Geschäft, nicht nur auf der Latrine. Angenehm ist auch die Zusatzverpflegung: Bier, Zigaretten, Erdnüsse, Schokolade und mehr, natürlich nur gegen bar.

 

Landschaftlich ist Munster- Lager einer der bisher schönsten Übungsplätze für mich, wenn man mal von den verkohlten und verbrannten Übungsfeldern absieht. Zurzeit ist auch die Artillerie hier aktiv. Während unserer Übungen konnten wir Detonationen und Rauchpilze in der Ferne vernehmen. Die Schussentfernung beträgt etwa 25 Kilometer. Das sollte man beim Wandern bedenken, sonst gerät man vielleicht noch in eines ihrer Planquadrate.

 

Am vergangenen Mittwoch machten wir hier ein großes Lagerfeuer. Wie schön kann doch ein Feuer sein, wenn man auf Grund einer Lage nicht feuern muss. Wir bekamen eine Menge Spaß und jeder Soldat erhielt sogar zwei Flaschen Bier auf Kosten des Staates. Ich dachte dabei an das Lagerfeuer vor einem Jahr in Era- Lessin, als jeder während unserer Übung einen einbeinigen Vogel erhielt (halbes Hähnchen).

 

So naturverbunden wie hier habe ich noch nie gelebt. Da wir ja bereits um 5 Uhr aufstehen, wird unser Waschen im Bach mit Vogelgesang untermalt. Wie schön, neben Heidekraut die Mittagsmahlzeit einzunehmen und abends im Mondenschein vor dem Zelt zu sitzen, im Regen die Stiefel zu putzen - reinste Pfadfinderromantik. Wenn nur nicht der ständige Dienst dazwischen käme, wäre alles noch attraktiver. Dieser ist dann unromantisch, nüchtern, zermürbend, eintönig und aufregend. So ist Munster - Lager keine Reise wert. Eigentlich ist es schade, Teile einer so schönen Gegend mit Artilleriegeschossen zu versengen und zu verkrüppeln. Doch was wird nicht alles getan, damit wir im Ernstfall bereit sind, unsere Lebensordnung zu verteidigen und diese vor äußeren Eingriffen und Angriffen zu schützen. Möge dieser Verteidigungsfall nie eintreten! Wir üben deshalb, damit dieser nicht eintreten soll, sagt unser Kommandeur immer. Dies ist bis 2008, also weitere 45 Jahre lang, wo ich diese Zeilen schreibe, so geblieben. Und dass wir einst Deutschland am Hindukusch verteidigen müssten, darauf kam damals niemand.

 

Hannover- Flughafen, 1. Mai

 

Wie ihr wisst, ist es ja erlaubt, am "Tag der Arbeit" alles das, was in Arbeit ausarten könnte, tunlichst zu unterlassen oder auf die lange Bank zu schieben, denn schließlich haben auch alle Kreditinstitute heute geschlossen. Selbst die Bundeswehr verbeugt sich heute leicht vor jedem Stück besonderer Arbeitskultur, so dass es so aussieht, als sei das Instandsetzen unserer Sachen nach unserer nun hinter uns liegenden Übung in Munster- Lager nicht so eilig.

 

Man überlässt uns gewissermaßen heute am "Tag der Arbeit" unseren verdreckten Zeltstangen und Heringen, den verschmutzten Zeltbahnen, nach Heidekraut duftend, den stinkenden Schlafsäcken, in denen geländegängige Füße elf Nächte lang hausten. Es hat heute am Tage der Gewerkschaften keine Eile so zu wirken wie gewohnt. Die verklebten Kochgeschirre, in denen der Geruch des Nudeleintopfes von vergangener Woche sich mit den Resten der gestrigen Bohnensuppe geschmacklos vereint, die angestaubten Feldflaschen, in denen es immer wieder sich stark ähnelnde Abfüllungen gab wie Tee, Tee mit Zitrone, Tee mit Hagebutte usw., all dies darf heute erst einmal so liegen bleiben. Darf - aber wer kann es verkraften, jene ins Uferlose ausufernde Instandhaltungsarbeit ohne ein schlechtes Gewissen bis zum morgigen Tag aufzuschieben?

 

Ich habe schon als Kind meine Hausaufgaben direkt nach der Schule gemacht, weil ich meine vorgezogene Freizeit nie richtig genießen konnte, wenn noch Aufgaben auf mich warteten. Verständlich, dass ich es nicht als unbelastend finden kann, wenn mein Spind am "Tag der Arbeit" wie ein rauchender Abfallhaufen aussieht. So kann man mich heute nach den verklungenen Ansprachen der Gewerkschaftsbosse dabei beobachten wie ich bürste, schrubbe und wasche und damit ein wichtiges Kulturgebot missachte. In Abwandlung von Luthers Worten sage ich: "Hier wirke ich, ich kann nicht anders". Ich erledige jedoch nur das Allernotwendigste, versteht sich. Es geht ja schließlich nicht um Glaubensfragen.

 

Ihr merkt: Aus Munster - Lager zurück! Nach dem 25. April, dem Tag meines letzten Berichts, geschah noch folgendes:

 

Wir warfen mit scharfen Handgranaten, jeder drei Stück. Nachdem wir nach dem Wurf bis Drei gezählt hatten, fand man uns alle in bestmöglicher Deckung, denn wir wollten ja den Feind und nicht uns selbst töten. Wir schossen auch mit der Panzerfaust. Alle Achtung, Respekt! Warum musste der Gefreite Hickmann auch auf der Schießbahn "Am Knie" hinter einem Panzerfaustrohr vorbei laufen, als gerade so ein Ding abgeschossen wurde? Der wegfliegende Korken traf ihn am Oberschenkel und brachte ihm eine handtellergroße tiefe Fleischverletzung bei. Der verletzte Kamerad wurde sofort in die zentrale Bettenstation eines Panzerlehrbataillons übergeführt. Zeugen wurden vernommen, BV- Meldung erstellt, Wehrdienstbeschädigung beantragt. Glück im Unglück, es hätte schlimmer ausgehen können.

 

Am darauf folgenden Tag genossen wir die Sprengvorführungen und den sich dadurch entwickelnden großen Waldbrand, der eigentlich nicht im Dienstplan vorgesehen war. Und immer wieder Erdzielschießen! Endlich, am Donnerstag, dem 30. April, vor der Walpurgisnacht, rissen wir unsere Zelte ab und übergaben den Biwakraum, nachdem wir vorher noch aus vollen Rohren auf Autowracks geschossen hatten.

 

Wie konnte es eigentlich zu dem erwähnten Unfall mit der Panzerfaust kommen? Der Leiter des Schießens, unser Chef, hatte unseren Erkundungsoffizier (wer bis hierhin aufmerksam gelesen hat, kennt die Namen) als Sicherheitsoffizier eingeteilt. Dieser bestimmt, wann geschossen werden darf und wann nicht. Im ersten Fall hebt er die rote Flagge. Als der verunfallte Gefreite Hickmann in die rückwärtige Feuerlinie einer gerade abgeschossenen Panzerfaust geriet, war die rote Flagge erhoben. Besagter Hickmann hatte seine Feuerstellung auf Befehl der Aufsicht beim Schützen, eines Unteroffiziers, zum Holen eines Kaliberstabes, mit dem man Pappreste einer abgefeuerten Panzerfaust entfernt, verlassen. Sowohl der Unteroffizier beim Schützen als auch der Schütze selbst hatten nicht beachtet, dass die rote Fahne erhoben war. Der besagte Schuss war somit freigegeben. So geschah der Unfall, bei dem der Soldat hinter das Rohr einer Panzerfaust der Nachbarfeuerstellung lief und von dem Feuerstrahl sowie dem nach hinten wegfliegenden heißen Korken der abgeschossenen Munition getroffen wurde.

 

Die Nachtfahrt am Montag war eine der schmutzigsten Übungen meiner bisherigen Dienstzeit. Es hatte lange nicht mehr geregnet und wir fuhren ohne Licht durch das Gelände. Der trockene Heideboden wurde durch die Rad- und Kettenfahrzeuge mächtig aufgewirbelt. Die Scheiben waren herunter geklappt, die Verdecks abmontiert. Nach der Übung sahen wir wie verbrannt aus. Wir hatten nicht nur alles schwarz gesehen, sondern wir waren es nun auch selbst, wie nach einer ethnischen Verwandlung.  Wer jetzt mit seinen Zähnen knirschte, galt als entschuldigt.

 

Am Wochenende habe ich keine Bereitschaft und werde die Flugschau und die Messe in Hannover besuchen. Meine Zähne strahlen in neuem Weiß. Ich führe dies auf die polierende Wirkung des nächtlichen Drecks aus Munster- Lager zurück.

 

 

 

27. Mai 1964

 

Nach meinem verhältnismäßig langen Urlaub bin ich etwas aus meinem dienstlichen Rhythmus herausgekommen. Die Übung "Back Lash" fällt aus. Die nächste wird erst gegen Ende Juni sein ("Playboy").

 

Morgen Abend darf ich zu einem Bundeswehrkonzert unter dem Motto "Marschmusik früher und heute" gehen. Normalerweise besuchen es nur Solodaten mit dienstlich einwandfreien Leistungen. Kameraden mit Mannschaftsdienstgrad sind dort nur selten anzutreffen. Immerhin eine Abwechslung im Dienstalltag für mich unter vielen Langenhagener Zivilisten.

 

29. Mai

 

Manch Interessantes erfuhr ich gestern Abend aus der Geschichte der Militärmusik im vollbesetzten Saal des neuen Wirtschaftsgebäudes der Boelcke- Kaserne in Langenhagen- Evershorst. Major Martin Kothe sprach über die Entwicklung dieses Musikgebietes und gab mit seinem Heeresmusikkorps 1 immer wieder klingende Beispiele zu seinen fesselnden Ausführungen, obendrein demonstrierte er dies und jenes mit ausgezeichneten Lichtbildern.

 

Die Ursprünge der Militärmusik sind in den Signalen zu suchen, die bereits bei den Römern und Karolingern in eine klare Ordnung gebracht wurden. Die eigentliche Entwicklung der Militärmusik setzte erst mit den sangesfreudigen Landsknechten ein und ging dann Hand in Hand mit der Vervollkommnung der Instrumente. Die zweite  Entwicklungsstufe setzte im 18. Jahrhundert mit den Regimentsgründungen ein, die zugleich eine Trennung von Spielleuten und Musikkorps im Gefolge hatte. Besetzt waren die Militärkapellen der Friederizianischen Zeit etwa wie folgt: drei Flöten, vier Oboen, je zwei Klarinetten, Hörner, Fagotte, je vier Fanfaren, Posaunen und eine Trompete, dessen Bläser nur durch viele Dukaten zu erwerben war. 

 

Die Marschkomposition nahm ihren Aufschwung erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit der Erfindung der Ventile für die Blechblasinstrumente, die es ermöglichten, auf Trompete, Wald- und Flügelhorn jede Tonleiter und dazu noch chromatisch zu blasen. Mit der bald folgenden Erfindung der Basstuba erhielt der Klang des Blasorchesters dann seinen fundamentalen Untergrund. Um 1840 kannte man bereits Musikkorps in Stärke von 40 und mehr Mann in einer Besetzung, die bis zur Einführung von Saxophon, Bass- und Kontrabassklarinette gültig blieb.

 

Anschließend erfuhr man, dass die Bundeswehr einschließlich Luftwaffe und Marine erst über zwanzig Musikkorps verfügt, die bestrebt sind, mit der Militärmusik deren Tradition würdig fortzuführen.

 

Die ergänzenden Lichtbilder berichteten von der Entwicklung einzelner Instrumente, von dem frühen Einsatz des Heeresmusikers im Krieg und bei festlicher Angelegenheit. Die Musikbeispiele zu den aufschlussreichen Worten begannen mit einem Pfeifer- und Landknechtsmarsch in originaler Spielweise und führten über den "Alten Dessauer" zum "Hohenfriedberger". Das im vorigen Jahrhundert aufgekommene landsmannschaftliche Marschkolorit wurde mit preußischer, sächsischer und hannoverischer Militärmusik demonstriert.

 

Fazit: Mir wurde der Marsch geblasen. Ich muss hier bleiben, also bleibe ich hier. Ich möchte mal einen Marsch komponieren mit dem Titel: "Blasen an den Füßen".

 

 

6.  Juni

 

Mit dem Spieß komme ich in der letzten Zeit überraschend gut klar, was mir irgendwie unheimlich vorkommt. Je länger man hier ist, desto mehr sieht man hinter die Kulissen. Was einen früher oft verstimmte, betrachtet man heute unter anderen Gesichtspunkten. Mag sein, dass sich dahinter bereits schon etwas Reservistenstimmung verbirgt.

 

9. Juni

 

Wahrscheinlich nehme ich an der Übung "Playboy" nicht teil, da ich unser Geschäftzimmer besetzen und darin arbeiten soll. Ich besitze ja nun die meiste Erfahrung von meinen derzeitigen Stubenkameraden. Am 7. Juli beginnt die große Urlaubssaison. Dann bin ich mit einem anderen Kameraden fast allein in der Batterie. Im August brechen wir erneut nach Todendorf auf.

 

21. Juni

 

Am Mittwoch, dem 17. Juni, herrschte auf unserem Kasernengelände ein buntes Treiben. Die Vereidigung der Rekruten vom ersten April fand unter Teilnahme der Öffentlichkeit statt. Dafür hatten wir fleißig geübt, so dass alles gut klappte (Helm ab, Ausrichten usw.). Zum Schluss der Zeremonie marschierte unser gesamtes Bataillon an den zahlreichen Zivilisten vorbei, vornehmlich Bürger aus Langenhagen. Nachmittags hatten wir dienstfrei. In der Nacht zu Donnerstag schrillten dann die Alarmglocken um 2.40 Uhr. Als wir zum Ausrücken bereit waren, wurde die Übung abgeblasen. Ich fühlte mich einerseits verarscht, andererseits war ich froh, bis 7 Uhr weiterschlafen zu dürfen.

 

Morgen dürfen wir den gesamten Tag schießen, und zwar in Resse, wo wir im Dezember so gefroren haben. Heute, zu Sommeranfang, ist dies kein Thema. Ich diene noch einen Sommer lang, ich, euer Vaterlandsverteidiger, Grundgesetzwachtmeister  und Hüter unserer demokratischen Lebensordnung.

 

23. Juni

 

Bei uns ist alles viel besser als das, was unser Wehrbeauftragter über uns berichtet. Vizeadmiral Heye übertreibt bisweilen, indem er negative Einzelfälle zu sehr verallgemeinert. Die Wahrheit liegt wohl etwa in der Mitte von Heye und von K. U. von Hassel. Noch 94 Tage, meine Herren! Nun werde ich erst einmal meine Appellsachen säubern, da ich merkwürdigerweise in letzter Zeit wieder an jenen Veranstaltungen, Appelle genannt,  teilnehmen muss. Ich nehme dies mit Humor. Sollte ich gefragt werden, ob ich nicht das kleine Härchen zwischen dem Profil meines linken Schnürschuhes bemerkt hätte, würde ich antworten: "Nein, hab ich übersehen. Für einen Schuh relativ viel, für einen Kopf relativ wenig, aber heute sind ja die Schuhe dran".

 

26. Juni

 

Hinter uns liegt eine unruhige Nacht: NATO- Alarm "Quick Train". Mark Twain könnte dies besser beschreiben. Es ging mal wieder hinaus zu unserem Verfügungsraum am Trompeterberg. Das Übliche: Verladen und nach der Rückkehr entladen. Nun muss ich noch eine Zeit hier verbringen, deren Länge genau meiner Grundausbildung entspricht. Ihr erinnert euch: "Niemand liebt dich…".

 

In der Nacht zu Montag beginnt unsere einwöchige Übung. Auch hier soll es vorher einen Alarm geben. Ich bleibe am Standort beim Nachkommando und muss das Geschäftszimmer besetzen. Zudem soll ich noch Rechnungsführergeschäfte übernehmen.

 

28. Juni

 

Diese Woche ging sehr schnell vorüber. Zwei Appelle, NATO- Alarm und Bereitschaft, die mich an den Block fesselte. Der Samstag ist bei Bereitschaft durch die Schließung der Kantine noch trostloser geworden.

 

Morgen früh beginnt die Übung. Es geht diesmal doch nicht mit einem Alarm los, was ich jedoch niemandem meiner Kameraden verraten darf. Der Hauptfeld fährt morgen in Urlaub - wie schön für ihn. Am nächsten Dienstag beginnt dann die  Urlaubsperiode der Batterie. Wenn ich nun hier in der Batterie in den kommenden Wochen fast alleine bin, kehrt sicher mehr Ruhe ein und ich werde meiner Arbeit störungsfrei nachgehen können. Unser Nachkommando besteht nur aus 14 Mann. Ich traue mir zu, jene gewissenhaft zu verwalten, z.B. immer die richtige Verpflegungsstärke anzugeben. Endlich einmal ohne ständige Unruhe und bisweilen unerträglichen Krach konzentriert arbeiten zu können, wird eine neue Erfahrung für mich sein. Darauf habe ich bis zum "Reservisten" warten müssen. Leider kein Dauerzustand! Nach der Urlaubsperiode geht die Hektik wieder weiter. Doch dann fallen wieder die ersten Kastanien von den Bäumen. Was das für mich bedeutet? Lest noch mal nach, was ich vor einem knappen Jahr dazu geschrieben habe.

 

6. Juli

 

Die schriftliche Bewältigung aller Urlaubs- Angelegenheiten meiner Kameraden verlangte mir heute viel Konzentration ab. Die nahezu einhundert Urlaubsscheine, die vor mir lagen, waren bereits in der vorigen Woche ausgefüllt, nachgesehen und geordnet worden. Heute kamen die Essensmarken hinzu, die während des Urlaubs abgegeben werden müssen. Manche Soldaten wissen noch nicht, wie lange sie Urlaub haben, denn es steht ja schließlich auf ihrem Urlaubsschein. So kam es, dass einige zu viele Essensmarken abgaben, was bedeutet hätte, dass sie nach ihrem Urlaub einen ganzen Tag nichts zu essen bekommen hätten. Jene Hungerkünstler bat ich zu mir und belehrte sie, wofür sie recht dankbar waren. Andere Kameraden gaben jene Marken überhaupt nicht ab, was einen Teilverlust ihres Verpflegungsgeldes nach Rückkehr aus dem Urlaub zur Folge gehabt hätte. Hinter jenen gedankenlosen Soldaten bin ich den gesamten Morgen hergelaufen. Auch jene bedankten sich bei mir, weil ich um ihr Wohlergehen so besorgt war. Einige fahren bereits morgen Mittag, da sie wegen ihrer letzten Blutspende noch einen halben Tag Sonderurlaub bekommen. Ja, Blut ist Urlaub.

 

10. Juli

 

Am Wochenende werde ich ganz alleine im großen Block sein, denn sowohl die restlichen vier Fahrschüler als auch der Unteroffizierslehrgang der Ausb.Kp 4/1, der zurzeit hier untergebracht ist, haben Wochenendurlaub. Erst am darauf folgenden Wochenende habe ich frei. Dann wird Gefreiter Lehners (sein Vater ist Bürgermeister von Hannover), dessen Urlaub dann zu Ende ist, auf dem UvD - Zimmer sitzen. Wollt ihr mich in der Zwischenzeit nicht einmal besuchen?

 

Am letzten Sonntag sind zwei Kameraden aus unserer Batterie auf der Autobahn mit ihrem Wagen schwer verunglückt. Sie stießen mit einem anderen Wagen zusammen, der kurz vorher von einem dritten Fahrzeug beim Auffahren auf die Autobahn gerammt worden war. Dieser brannte völlig aus. Einer von meinen Kameraden, Kanonier Bleidistel, liegt mir schweren Verletzungen im Nordstadt- Krankenhaus in Hannover. Es besteht Lebensgefahr. Der Andere ist nicht so schwer verletzt worden, sieht aber ziemlich entstellt aus. Am vergangenen Mittwoch haben unser Oberleutnant Vilette, ein Kamerad und ich die beiden Verletzten im Krankenhaus besucht. Kamerad Bleidistel erlag kurz darauf seinen schweren Verletzungen. Ich nahm an seiner Beerdigung teil und war sehr erschüttert.

 

12. Juli

 

Ich kann hier einfach nicht weg. Ich bin nämlich im Augenblick der einzige, der die Geschäftszimmerschlüssel sowie den Schlüssel für den Panzerschrank hat. Eine Übergabe dieser Schlüssel an einen anderen Soldaten ist nicht möglich. Ich dürfte sie allenfalls an einen Offizier, z. B. an unseren Erkundungsoffizier abgeben. Der ist jedoch ebenfalls zurzeit in Urlaub. Außerdem bin ich nun der einzige hier, der im militärischen Schriftverkehr bewandert ist. Wenn irgend etwas Besonderes passieren sollte, wie gerade jetzt der Tod meines Kameraden, ein echt trauriger Extremfall, habe ich die gesamten schriftlichen Formalitäten durchzuführen. Gerade habe ich zudem noch einen Eilbrief an den Oberleutnant abgeschickt. Ich darf mich somit von der Batterie kaum entfernen und muss jedes Mal schriftlich hinterlegen, wo ich  mich aufhalte. Das Telefon muss ständig besetzt bleiben. Nur selten finde ich eine kurzfristige Vertretung dafür. Aber meine restlichen 75 Tage werden immer überschaubarer.

 

25. Juli

 

Wieder liegt eine weitere Woche der Stille hinter mir. Der Spieß schaute heute Morgen mal kurz herein, allerdings in Zivil, denn er hat ja noch Urlaub. Wahrscheinlich Sehnsucht nach der Kaserne oder Kontrolle meines Pflichtbewusstseins, oder beides. Egal. Am nächsten Samstag geht es dann wieder los in Richtung Todendorf. Wir verladen wahrscheinlich schon am Vormittag. Montag soll bereits der erst Schießtag sein. Der Kommandeur hat angeordnet, dass der Aufenthalt in Todendorf nach hartem Garnisonsdienst zu einem beachtlichen Teil auch der Erholung dienen soll. Wir dürfen diesmal sogar unsere Zivilsachen mitnehmen.

 

30. Juli

 

Übermorgen geht´ s ab nach Todendorf. Vorher werde ich meinen Brieffreundinnen noch schreiben, denn wer weiß, ob ich an der Ostsee dafür Zeit finde. Dazu gehören: eine siebzehnjährige Oberschülerin aus Düsseldorf, die einmal Gesang studieren möchte mit dem Fernziel, der "Deutschen Oper am Rhein" beizutreten. Weiterhin ein gleichaltriges Mädchen aus Wuppertal, das vorgibt, Tiere sehr zu lieben. Sie besitzt zu Hause sogar einen kleinen Privatzoo mit einem Mozambique - Zeisig, einem Girlitz, einer Chinesischen Nachtigall (ein Vogel aus dem Land des Lächelns also) und einem Kleinpudel. Eventuell komme ich als Primat demnächst noch dazu. Außerdem ist sie sehr wanderfreudig. Na, die kennt eben den Kommis nicht. Nun habe ich auch noch Post aus Ostfriesland erhalten von der Tochter einer alten Seemannsfamilie in Leer. Weitere briefliche Verbindungen führen nach Holland und Schweden. Noch 56 Tage, dann bekommt der Satz "Wo du nicht bist, kann ich nicht sein" eine völlig neue Bedeutung für mich.

 

Todendorf, 4. August 1964

 

Soeben habe ich die letzten Unterschriften eingeholt und die Dienstpläne für morgen verteilt. Diesmal hausen wir in Lager B in besserer Lage, da Offizierskasino, Feldwebelheim, Geschäftszimmer und Mannschaftsbaracke nicht so weit auseinander liegen wie im Lager C. Wir haben hier sonst alles so, wie von den letzten zwei Übungen gewohnt, angetroffen. In Lütjenburg musste ich zum Zahnarzt, um einen Backenzahn für die Tage nach meiner Dienstzeit zu retten. So lernte ich die ostholsteinische Kleinstadt einmal näher kennen und erfuhr, dass es auch dort Zahnschmerzen gibt.

 

Hier oben ist es immer noch sehr windig und es erwärmt sich nur langsam. Von Badewetter keine Spur. So kann der berühmte Todendorf- Schlaf wieder einziehen, zudem die Betten diesmal besonders weich sind. Hoch lebe Munsterlager! Anstelle von scharfen Handgranaten gibt es hier wenigstens kalte Duschen, vor denen man in Deckung gehen sollte. Jetzt werde ich aber erst einmal meinen Backenzahn seinem ersten Test nach seiner Behandlung unterziehen. Es gibt Abendbrot. Das wird hart!

 

6. August

 

Am heutigen Tage hat der Sommer gezeigt, dass er wahrscheinlich doch noch willens ist, den Kameraden in Todendorf einige erholsame Stunden am Strande der tiefblauen Ostsee zu gönnen. Die Temperaturen lagen um die zwanzig Grad, die Sonne schien und der raue Wind ließ nach, was den vielen Campingfreunden auf den nur wenige Kilometer von hier entfernten Zeltplätzen ebenso willkommen war wie den Soldaten, die sich hier und dort in die Sonne legten oder vereinzelt auch - soweit sie dienstfrei hatten- an die See hinaus wanderten. Nachdem sich die Sonne nun bereits wieder recht tief gegenüber der Ostsee verneigt hat und ein etwas kühlerer Wind an den Lagern vorüber streicht, hofft man weiterhin auf gutes Wetter.

 

Morgen Nachmittag ist dienstfrei. Das Schießen dauert nur bis zum Mittag. Die Zeit danach soll an jenem Tag ausschließlich der Erholung dienen. Bislang hat es in der Batterie noch keine bemerkenswerten Disziplinlosigkeiten gegeben, die hier gewöhnlich öfter auftreten als am Standort. Ansonsten drohen Nachausgangsverbot und Zivilsperre. Bislang waren auch unsere Schießleistungen besonders gut. Noch 50 Tage liegen vor mir. Ich sollte nicht so oft daran denken, denn auch Freude kann man meist nicht für Wochen oder Monate vorbestellen.

 

Die politische Entwicklung im Fernen Osten ist nicht gerade für Freudentänze geeignet. Der Kalte Krieg sucht sich wohl noch lange Zeit irgendwo auf der Welt seine heißen Nadelstiche. Diesmal sind es Kampfhandlungen auf offener See. Die Amerikaner werden hoffentlich nicht zurückschlagen. Der Hauptspannungsmoment für mich ist die Reaktion Chinas, des Landes des roten Lächelns, Rot- China genannt. Moskau hält sich zurück und spielt den sich freuenden Dritten, wenn sich zwei in die Haare kriegen. Militärisch ist China Amerika haushoch unterlegen und es wird sich wohl überlegen, einen offenen Krieg zu riskieren. Die Geschichten vom amerikanischen "Papiertiger" werden nun immer mehr zu Märchen. Außerdem wirkt sich der ideologische Konflikt zwischen China und Sowjetrussland nicht gerade fördernd für einen Krieg aus. Die derzeitige Aggressivität Rot- Chinas gibt jedoch zu denken. Wie weit wird das Land gehen, wenn es richtig eingreift? Moskau hat dies schon einmal bei der Kubakrise gezeigt, so dass sich seine künftige Haltung bei Krisen ziemlich genau einschätzen lässt. Mit China, dem "Land des Lächelns",  haben wir diesbezüglich noch zu wenig Erfahrung. Ich verzichte auch darauf.

 

In den vergangenen Tagen wurde mir wieder recht deutlich bewusst, dass wir hier in der Bundeswehr unseren Dienst mitten im Kalten Krieg leisten. Von einem "Hobby" kann nicht im Entferntesten die Rede sein, auch wenn man über der friedlichen Ostsee wie zum Spaß mit der Flugabwehrkanone auf Luftziele ballert, welche Flugzeuge brummend hinter sich her ziehen. In Vietnam hat der Krieg begonnen. Die Amerikaner haben aber auch Pech, dass die Kommunisten so gerne Salami essen. Deshalb wollen sie unter allen Umständen verhindern, dass die Roten sich eine Scheibe nach der anderen davon abschneiden, wodurch der Kommunismus sich allmählich global immer weiter verbreiten könnte.  Heute wissen wir, dass diese Wurst längst gegessen ist und auch nicht so groß war wie zuerst angenommen. Groß waren jedoch die Opfer unter den Soldaten beider Seiten und Amerika musste sich nach vielen Jahren geschlagen aus einem verwüsteten Vietnam zurückziehen.

 

Hier in Todendorf spricht man kaum über die neue Krise. Der Ferne Osten ist weit weg, wie ja schon der Name andeutet. Internet, Globalisierung und Bankenkrisen gibt es noch lange nicht. In Todendorf ist es friedlich. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass es den Kalten Krieg in 25 Jahren nicht mehr geben würde, dass der Eiserne Vorhang dann gefallen und dass unser geteiltes Land wiedervereinigt sei, den hätte ich in die psychologische Psychotherapie geschickt. Wenn dieser Jemand dann auch noch behauptet hätte, wir müssten unser Land einst am Hindukusch verteidigen, den hätte ich sofort für nicht mehr therapierbar eingestuft.

 

8. August, Lager B 3

 

Unternehmungsgeist, Freude und Schlaf werden mir nun wieder durch meinen ständig schmerzenden Backenzahn genommen. Ich war bereits erneut beim Zahnarzt in Lütjenburg, über dessen Tür zur Praxis ich am liebsten ein Schild "nobody is perfect" hängen würde.

 

Heute Morgen waren Spieß, Rechnungsführer und ich in Kiel, um Besorgungen zu machen. Die Zahnschmerzen blieben mir dabei näher als meine restlichen 48 Tage. Wenn demnächst einmal ein weibliches Wesen zu mir von seinen "Tagen" reden sollte, würde ich sagen: Verstehe, die hatte ich auch mal, sogar mit fürchterlichen Zahnschmerzen. Mein Zahnarzt wäre besser Archäologe geworden, denn die graben auch oft tagelang an Stellen, ohne etwas zu finden. Jetzt weitet sich der Vietnamkonflikt auch noch weiter aus. Meine letzten Tage habe ich mir vor kurzem noch ganz anders vorgestellt.

 

13. August,

dritter Jahrestag des Baus der Berliner Mauer

 

Am kommenden Montag unternehmen wir eine Fahrt über die Plöner Seen. Die Stimmung steigt, vor allem, weil die nervtötende Füllung meines Backenzahns ihre Wirkung nicht verfehlt hat. Ich hätte nicht gedacht, dass es so angenehm sein kann, Nerven zu verlieren. Noch sechs Wochen bundesrepublikanischer Pflichterfüllung im Öffentlichen Dienst. Jene Zeit wird mir mal auf mein Pensionsalter angerechnet, aber hallo! Davon profitiere ich heute! Das Wetter passt sich der Stimmungslage immer mehr an. Vor allem ist der Übergang von Tag und Nacht in der Nähe eines Leuchtturms stets ein besonderes Erlebnis, vergleichbar einem Feuerzeug, das erst nach vielen Versuchen zündet.

 

Nächste Woche fängt die Sauferei hier wieder an, Kraftfahrerabend und Schreibstubenabend. Todendorf ist auch diesbezüglich meine letzte Übung.

 

17. August

 

Noch zehn Tage, dann hat auch dieser dritte Aufenthalt hier in Todendorf für mich ein Ende. Heute Morgen haben wir eine Bootsfahrt über die vier Seen bei Plön gemacht. Sehr schön! Es war auf jeden Fall besser als meine helle Sommerhose beim Bügeln durch eine aufgelegte Zeitung zu versengen. Das Eisen war wohl zu lange eingeschaltet gewesen. Wäre es doch nur eine meiner Diensthosen gewesen! Das hat nicht nur meiner Hose im wahrsten Sinne des Wortes gestunken, sondern auch mir. Noch 39 Tage!

 

20. August

 

Vorgestern hatten wir heftige Gewittergüsse, so dass der Campingplatz in Behrensdorf unter Wasser stand. Wir brauchten dort nicht einzugreifen, das macht die Bundesmarine. Die betreffenden Leute wurden evakuiert und zu uns ins Lager gebracht. Wir stellten dafür drei Lastwagen zur Verfügung, da die Marine mit ihren Booten nicht genügend Wasser unter dem Kiel hatte.

 

Dienstlich gibt es kaum Neues. Der Schreibstubenabend am Dienstag nächster Woche wird mich einiges kosten. Ich feiere meinen Ausstand. Wir sind zu sieben Mann und fahren nach Panker zur "Olen Liese". Noch 36 Tage!

 

23. August

 

Strahlend blauer Himmel, tiefblaue Ostsee und Sonnenschein. Heißt es nun "Niemand liebt dich so wie ich?" oder "Niemand liebt dich, wieso ich?"  18 Monate meines Lebens werden wohl bei mir für immer eine Prägung hinterlassen. Ich habe in der nun fast hinter mir liegenden Dienstzeit vieles gesehen und erlebt. Vielleicht ist es für die Entwicklung eines jungen Menschen besser, wenn er bisweilen auch einmal durch den "Dreck" muss, wenn er auf gewohnte Dinge verzichten und Entbehrungen auf sich nehmen muss. Ich kenne einige meiner Grenzen nun besser als früher. Als unsportlicher Pennäler wurde ich von heute auf morgen vom Elternhaus und meinem Schäferhund getrennt und ungeahnten körperlichen und seelischen Belastungen ausgesetzt. Jene neue Gegenwart erforderte oftmals Härte. Übrigens ist Härte immer so groß wie man sie empfindet, und im Nachhinein in dem Maße wertvoll, wie tapfer man sie einst überwunden hat. Nur eins darf nicht geschehen: Härte darf nicht zur Verletzung von Menschenrechten führen. Ich bin froh, so etwas hier nicht erlebt zu haben. Nun  freue ich mich auf die Rückkehr, auf mein eigenes Zimmer, mein eigenes Bett. 

 

Hannover- Langenhagen, 5. September

 

Nun weiß ich meinen Entlassungstermin: Dienstag, 29. September 1964, 10 Uhr. Am 28. ist meine Auskleidung. Aus meinem Bataillon werden insgesamt 97 Mann entlassen.

 

11. September

 

Es ist Freitagabend. Der Wochenendurlaub hat begonnen. Nur noch fünf Leute sind hier in der Batterie. Nun herrscht wieder die bekannte Stille. Die Tage schmelzen zusammen. Inzwischen sind noch weitere Befehle zur Entlassung gekommen, nämlich die Termine für die Voruntersuchungen (Überprüfung auf "Dachschäden") und die Hauptuntersuchungen (an Haupt und Gliedern). Die Auskleidung findet am 28.9. statt, so dass wir bei den Untersuchungen noch immer angezogen erscheinen können. Sie findet in Hannover- Bothfeld in der "Prinz- Albrecht- Kaserne" statt. Prinz Albrecht wird uns persönlich auskleiden. Morgen werde ich meine Ausrüstung auf Vollzähligkeit überprüfen. Allmählich muss ich meine Namensschilder aus den Wäschestücken trennen. Die Verabschiedung durch den Kommandeur ist am Freitag, dem 25. September.

 

Die letzten Tage verbringe ich im Schwung des Leerlaufs. Ich bin ziemlich müde, denn gestern haben wir in Langenhagen ein kleines Fest anlässlich eines Geburtstages gefeiert. Hier gibt es oft mehr Anlässe zum Feiern als der Körper vertragen kann. Wer Geburtstag hatte? Den kennt ihr nicht! Aber ich!

 

Dann gibt es auf einmal doch wieder viel zu tun! Nun bin ich fast überlastet. Fast alle Schreiber haben Urlaub, der letzte - außer mir - lernt Autofahren. Heute Abend arbeite ich noch mit dem Hauptmann zusammen, oder besser: er mit mir.

 

Ich erhalte 275 DM Entlassungsgeld. Nicht viel, aber wenig.

 

22. September

 

Meine Entlassungsvorbereitungen laufen an. Ich bearbeite meine Papiere selbst. Die ärztlichen Untersuchungen liegen hinter mir. Ich bin kerngesund. Mir und meiner Ausrüstung fehlen nichts. Nicht einmal ein Bundeswehrtaschentuch.  Meinen Koffer packe ich in der zweiten Wochenhälfte. Ich schicke ihn nach Solingen- Ohligs oder Vohwinkel. Ich habe heute meine Beurteilung bekommen. Sie lautet:

 

"Ausgeglichener Soldat, in seinem Wesen grundanständig und hilfsbereit, korrekt und höflich im Umgang. Wegen seines trockenen und spritzigen Humors wird Hoffmann im Kasernenbereich sehr geschätzt. Gefreiter Hoffmann wird in der Batterie als Stabsdienstsoldat eingesetzt. H. arbeitet selbstständig und gewissenhaft und erfüllt mit Umsicht und Fleiß die ihm gestellten Aufgaben. Große, ungezwungene Erscheinung, körperlich voll belastbar".

 

"Verwendung: Stabsdienstsoldat

Gesamtnote: gut"

 

Bislang wusste ich nicht, dass ich so gut war. Aber es ist schön, wenn man das einmal gesagt bekommt. Nach den bereits erwähnten Abschlussarbeiten werde ich am Sonntag noch meinen Spind leer räumen und alles im Bekleidungssack verpacken. Ab Montagmittag, nach der Auskleidung, bin ich natürlich nicht nackt, sondern Zivilist für immer.

 

25. September 1964

 

Mein großer schwerer Koffer wird nun zu Hause eintreffen. Einhundert Kilo werden bald wieder in Solingen sein: 80 kg wiege ich und 20 kg wiegt mein Koffer. Mit einer zentnerschweren seelischen Belastung fuhr ich am 1. April 1963 nach Hannover in die Boelcke- Kaserne, und als erleichterter Doppelzentner kehre ich nach fast auf den Tag genau 18 Monaten Wehrdienst für immer zurück. Mein Spind gähnt vor Leere. Das wird meinem Nachfolger, dem armen Kerl, eine Lehre sein. Bis auf meine Kleidung am Leib und ein wenig Zahnpasta, Seife und eine Bürste bin ich völlig verarmt. Apropos Armut: Mein Entlassungsgeld werde ich zunächst nicht anrühren.

 

Heute war Verabschiedung durch den Kommandeur. Er gab jedem von uns die Hand. Zu mir sagte er: "Na, Hoffmann, wo hören oder sehen wir Sie wieder? Im Rundfunk? Im Fernsehen?"  "In Solingen, Herr Major"!

 

 

29. September 1964

 

Ich sitze im Zug von Hannover nach Solingen, eine Fahrt von genau vier Stunden. Achtzehn Monate Wehrdienst liegen hinter mir. Die letzte endgültige Fahrt zurück in die  Region meiner Kindheit und Jugendzeit, aus der mich die Bundeswehr für eine Weile vertrieben hatte. Erst viele Jahre später werde ich richtig begreifen, was jene Zeit für mich wirklich bedeutet hat und werde dankbar dafür sein, so viel aufgeschrieben zu haben. Beim Lesen werde ich jene Monate, ja sogar einige Tage, Stunden bis zu manchen Minuten und Sekunden ein zweites Mal erleben.

 

Mein Spieß, über den ich mich oftmals ärgern musste, verabschiedete sich wider meine Erwartung auffallend herzlich von mir. Ja, dieser Hauptfeldwebel! Hauptfeld? Feld.. fällt…einfältig… Dazu muss mir doch sofort hier im Zugabteil etwas einfallen! Also habe ich bis Solingen etwas zu tun! So stelle ich mich in Gedanken nochmals auf die Kantinenbühne, auch wenn heute keine Militärmusik dazu erklingt, und fange an zu schreiben:

 

Unser Hauptfeldwebel

 

Dem Hauptfeld fällt auch nicht mehr ein, als dass ihm der Soldat im Feld besonders gefällt, der vor dem Hauptfeld zur Befehlsausgabe niederfällt, einschließlich Feldpostnummer, und der, falls er nicht fällt, ihm weiterhin gefällt, es sei denn, der Soldat gebe kund, was ihm an seinem Hauptfeld missfällt. Dann missfällt es dem Spieß, dem Gefallenen gefällig zu sein, wobei ihm nichts Weiteres einfällt, als ihn fallen zu lassen, falls er nicht inzwischen bereits gefallen ist. Einen Menschen fallen zu lassen, ist einfallslos. Doch wem dies gefällt, dem fällt diesbezüglich immer etwas ein. Und das gefällt den Wenigsten. Mehr fällt mir nicht ein! Deshalb bin ich noch lange nicht einfältig oder einfallslos. Mir fällt nur auf, was anderen nicht gefällt und sie zu Fall bringt. Einfallsreich muss man sein! Fällt mir noch was ein?  Nein! Der Vorgang fällt und damit auch der Vorhang!  Ende der Fall-Studie. Tschüss Kameraden!

 

 

Klaus H. , Gefreiter und "Befreiter" 

 

29. September 1964     24. August 2008

 

PS:

Die Liegenschaft  (meine) "Boelcke-Kaserne" wurde zu Beginn der 90er Jahre von der Bundeswehr aufgegeben. In einem Teil des Gebäudekomplexes wurden ein Gefängnis und ein Montessori-Kindergarten untergebracht. Jene räumliche Nähe beider Einrichtungen erachte ich als rein zufällig. Ich nahm ja auch schon während meiner Dienstzeit stets das Beste an. Das Flughafengelände wurde umgestaltet. Ehemalige Landebahnen wurden zu landwirtschaftlich genutzten Flächen gemacht, neue Bahnen dafür angelegt. Das Betreten des ehemaligen Geländes ist teilweise aus flugpolizeilichen Gründen verboten. Meine geliebte "Heimstatt" soll jedoch noch begehbar sein. Bei meinem nächsten Besuch von Hannover werde ich mal nachschauen.  Doch…"repice finem". 

 


Jubiläum: 60 Jahre nach dem Wehrdienst

Ein ehemaliger Kamerad meldet sich. Fast hätten wir uns damals vor 60 Jahren in der Boelcke - Kaserne getroffen.
E-Mail:
Nachricht: Lieber Klaus, habe durch Zufall Deinen Bericht gefunden und schmunzelt gelesen. Ich war ca.2 Jahre vor Dir, von Juli 1960 bis März 1962 in der Fla 1, 5. Batterie, FmT Trupp bei Fw bzw.  OFw Manfred Rau. Der Fw Balzer 3. war bei mir als Uffz.der Ausbilder in der A+L (Ausbildungs und Lehrbatterie, später die 4/1). Balzer kam vom BGS und hat nach Deinen Ausführungen nur 4 Jahre beim Bund gemacht. Der Btl Kdr war Major Schönefeld oder so. _ Ich bin erst als W 12 gezogen worden, habe verlängert auf W 18. Am 13. August 61 wurde die Mauer gebaut und man hat mich dann 3 Monate länger dabehalten, die Lage war "eng" geworden. Entlassen wurde ich als W21 und mit dem Dienstgrad GUA d. Res. . Durch ein paar Wehrübungen, immer in Todendorf, bin ich dann StUffz. geworden. Herzliche Grüsse vom Waffenkameraden Joachim Falke

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